Der Hof im Grenzgebiet

Eine wahre Begebenheit.
Erlebt von Helga Thein, aufgeschrieben und gelesen von Andrea Groh

  Zum Lesen und Mitfühlen

Der Hof im Grenzgebiet

Leben an der deutsch-deutschen Grenze - zwischen Flucht und Überwachung

Im Gebiet der alten innerdeutschen Grenze sickerte viel Leid in den Boden – von Menschen, die aus der DDR in den Westen fliehen wollten. Einigen wenigen gelang die Flucht, oft unter dramatischen Umständen. Vielen jedoch blieb der Weg in die Freiheit verwehrt. Sie wurden von den Hunden der Grenzschützer gestellt, angeschossen oder erschossen.

Die Bewohner der Grenzregionen waren stumme Zeugen dieser Ereignisse. Unterschwellig waren sie stets darauf gefasst, dass jederzeit ein Schuss fallen könnte oder die Flutlichtscheinwerfer mitten in der Nacht Haus, Hof und Felder taghell erleuchten würden. Zudem standen sie permanent unter Verdacht, Flüchtlinge zu unterstützen und ihnen etwa auf ihrem Grund und Boden Unterschlupf zu gewähren. Hausdurchsuchungen gehörten zum Alltag, und auf ihren Feldern durften sie nur niedrig wachsende Pflanzen anbauen – in einem Maisfeld hätten sich schließlich Menschen verstecken können…

Der verhexte Männerhof - wo keine Frau lange bleibt

Auf einen dieser Grenzhöfe fahre ich heute zum Räuchern. Er trägt nicht nur die Last, die auf der ganzen Region liegt, sondern hat auch seine ganz persönliche Geschichte: Seit Generationen ist dieser Hof größtenteils ein reiner Männerhof. Frauen haben es hier meist nicht lange ausgehalten – sei es die Ehefrau des jeweiligen Eigentümers oder die eines Knechts. Früher oder später verließ nahezu jede Frau den Hof und nahm ihre Kinder mit, zumindest die Mädchen. Die Jungen blieben seltsamerweise oft zurück.

Auch Isabella, die Frau des aktuellen Besitzers Michael, beschloss gleich nach der Geburt ihrer jüngsten Tochter, lieber zu ihren Eltern zu ziehen als auf den Hof zurückzukehren. Ihr erstgeborener Sohn blieb beim Vater.

Weil sich das Muster der Ahnen nun auch bei Michael zu wiederholen begann, bat mich seine Schwester Claudia, den Hof zu räuchern.

Mit ihr sitze ich jetzt im Auto und unterhalte mich während der gesamten Fahrt über das Räuchern und die Wirkung von Kräutern, Ölen und Heiledelsteinen, über Glauben und Brauchtum. Claudia warnt mich vor: „Auch wenn das Räuchern eine lange Tradition hat… mein Bruder hält das alles für Spinnerei und Humbug. Das, was du machst, gibt es in seiner Welt nicht.“ Ich nicke verstehend…

Eine hellsichtige Räucherfrau betritt den Hof

Nach langer Fahrt erreichen wir den Hof. Er ist riesig! Eine lange Hofmauer, ein imposantes Hoftor, ein mehrstöckiges Wohnhaus mit vielen Zimmern, große Lagerhallen und mehrere Ställe. Alles wirkt düster und ist voller Unrat. Überall liegen zerbrochene Steine und Ziegel, kaputte Werkzeuge und fahruntaugliche Maschinen stehen herum. Selbst die Pflanzen wachsen eigenartig: Statt sich direkt der Sonne entgegenzustrecken, baumeln ihre dürren Stängel zur Seite, als würden sie wie ein welker Tulpenstrauß kraftlos auseinanderfallen. Die zwei Hofhunde, stattliche Schäferhunde, kündigen unseren Besuch lautstark bellend und wütend an: Sie springen in ihrem Zwinger wild umher, fletschen die Zähne und krachen wie besessen immer wieder gegen die Gitter.

Eine Welle der Ablehnung schlägt mir vom gesamten Hof entgegen. Das ganze Areal wirkt wie zugenagelt, versperrt. Das Hoftor scheint mich nicht eintreten lassen zu wollen. Claudia bemerkt mein Zögern und meint aufmunternd: „Komm ruhig rein, Helga!“ Doch ihr OK reicht mir nicht. Ich brauche stets eine eindeutige Einladung vom Besitzer.

Zwischen Skepsis und Verzweiflung - die erste Begegnung mit Michael

Der kommt netterweise bereits auf uns zu. Der Radau seiner Schäferhunde hat unseren Besuch unüberhörbar angekündigt. Michael ist Mitte 30, übel gelaunt und wortkarg. Gelangweilt schlappt er auf mich zu – mit gebückter Haltung und auf den Boden starrend. „Na, da hat aber jemand Lust auf meinen Besuch!“, denke ich bei mir… „Darf ich eintreten?“, frage ich ihn freundlich. Er blickt mich missmutig an, überlegt kurz und brummelt dann: „Naja… ich hab‘ ja nichts mehr zu verlieren. Ich glaub‘ zwar an den ganzen Räucherquatsch nicht, aber… wenn du schon mal da bist… komm halt rein…“

Das klingt zwar nicht nach einem offenen und herzlichen Willkommen, aber zumindest die erste Hürde ist genommen. Das Tor lässt mich jetzt eintreten.

Ich betrete den Hof und ziehe wie üblich sofort meine Schuhe aus, um mich mit der Energie des Ortes und seiner Bewohner zu verbinden. „Bist du verrückt!“, schreit Michael neben mir. „Ich kehr‘ hier nicht…“ Puh… was für eine miese Stimmung. Mit dieser Wand aus Angst und Ablehnung lässt sich schlecht arbeiten. Ich versuche also zunächst, eine neutrale Basis zu schaffen: „Hallo, ich bin Helga aus Bamberg“, stelle ich mich vor und erkläre dann mein Anliegen: „Deine Schwester hat mich gebeten, hier zu räuchern, um bei dir und auf deinem Hof wieder Ruhe einkehren zu lassen.“ Ruhe ist tatsächlich etwas, was dieser Ort und seine Menschen dringend brauchen!

Michael überwindet seinen inneren Widerstand und öffnet sich ein wenig. Während seine Schwester auf ihn einredet – über den Lärmpegel der Maschinen und kläffenden Schäferhunde hinweg – seufzt er: „Mein Name ist Michael.“ Sein Blick wird traurig: „Meine Frau ist mit unseren beiden Kindern fort. Sie hat den zweijährigen Sohn und unser erst drei Wochen altes Baby mitgenommen… Sie fühlt sich hier nicht wohl und hält es auf dem Hof nicht mehr aus… Und nachdem das schon so vielen vor mir passiert ist… naja… komisch ist das schon… jedenfalls kam meine Schwester auf die Idee, dich anzurufen…“

Dass sich seine Frau hier nicht wohl fühlt, verstehe ich nur zu gut – die Kombination aus Schmutz, Lärm und einem wortkargen Griesgram ist wahrlich keine Wellness-Oase. Ich spüre, dass mich heute ein arbeitsreicher Tag erwartet.

Mein Räucherkesselchen hatte ich vorhin am Hoftor schon vorbereitet. Ich hole es mir nun, wähle die passenden Kräuter und laufe mit dem niedergeschlagenen Ehemann an meiner Seite zunächst durch das Wohnhaus. Während sich durch das Räuchern die Energien wandeln, erzähle ich Michael von seinen Ahnen, die vor ihm hier auf diesem Hof lebten und arbeiteten. Ich erkläre ihm, warum sein bisheriges Leben so verlaufen ist, warum seine Ehe so unglücklich ist, und zeige ihm gleichzeitig auf, was er verändern kann, damit sich alles zum Besseren wendet.

Je mehr Details zur Sprache kommen, desto interessierter wird Michael. Er ist verdutzt und verblüfft über das, was ich ihm über ihn und seine Ahnen berichten kann. „Wie kannst du das alles wissen? Meine Schwester kann es dir nicht verraten haben, denn sie kennt selbst nicht alle Details, die sich hier auf dem Hof und in meiner Ehe ereignen! Und von meinen Ahnen kenne ich zwar die ein oder andere Geschichte vom Hörensagen, doch vieles von dem, was du mir erzählst, ist mir selbst unbekannt. Doch es könnte stimmen! Es würde so einiges erklären…“ – „Ich weiß es einfach“, antworte ich achselzuckend. „Ich bin von Geburt an hellsichtig.“

Die Wandlung - wie aus einem Griesgram neue Hoffnung erwächst

Diese Informationen und die Offenbarung meiner Gabe wirken wie ein Türöffner für Michaels Herz – vor meinen Augen verwandelt er sich vom traurigen, wortkargen Eigenbrötler zum „gestandenen Mannsbild“ – voller Tatkraft, mit aufrechtem Gang, einem klaren Blick und frechen Augen, aus denen keck eine große Portion Witz strahlt.

Was für eine Veränderung! Ich bin aufrichtig dankbar, begeistert und strahle über das ganze Gesicht. Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich an diesem Ort wirklich willkommen bin. Mit diesem neuen Michael an meiner Seite werden wir bestimmt auch die Ursache für die miserable Energie an diesem Ort finden.

Das Geheimnis des todbringenden Stalls

Gemeinsam gehen wir weiter zu einer der großen Stallungen. Am Stalltor angekommen wird mir plötzlich unglaublich übel. Ich könnte mich auf der Stelle übergeben. Verdutzt schaue ich Michael an, der mich wissend und mit traurigen Augen anblickt.

„Hier standen früher gut 70 Tiere, doch aus irgendeinem Grund verendet seit vier Jahren jedes einzelne Tier in diesem Stall“, klärt mich Michael auf. „Wir haben alles versucht, um herauszufinden, warum das so ist, und alles unternommen, was man nur tun kann: Wir haben extra den gestampften Lehmboden abgetragen, den ganzen Stall desinfiziert und anschließend gekalkt, das Wasser und auch das Futter genauestens untersuchen lassen. Doch die Experten haben nichts gefunden… Jedes Tier, das hier gesund in den Stall kam, wurde nach kurzer Zeit krank und starb. Einfach so… Und keiner weiß, warum.“

Der Hofherr, ratlos und niedergeschlagen, musste die Viehhaltung in den Stallungen notgedrungen aufgeben. Die hohen Kosten für die vergebliche Reinigung und die fehlenden Einnahmen rissen ein ordentliches Loch in die Haushaltskasse.

Ich fühle mit ihm und bitte inbrünstig darum, dass wir die Ursachen für diesen todbringenden Stall finden und beheben können.

Also räuchere ich den Raum langsam und gründlich durch. Laufe hin und her, kreuz und quer. Spüre die Unruhe an diesem Ort. Etwas ist äußerst zäh… morastig… wie in einem modrigen Sumpf…

An einer der Außenwände wird dieses Gefühl noch stärker. Aufgewühlt laufe ich mehrmals mit meinem Räucherkesselchen an der Wand entlang. Hier ist etwas… ich spüre es… ich bündle meinen Fokus noch intensiver und werde mir meiner messerscharfen Sinne vollständig bewusst. Ich bin hellwach. Absolut präsent… und tauche ganz in die Energien dieses Ortes ein…

Und wie aus heiterem Himmel trifft mich die Erkenntnis: Es ist nichts in diesem Stall! Nichts auf diesem Grundstück! Es ist etwas außerhalb! An der Außenmauer! Da liegt etwas!

Die tragische Entdeckung - ein vergessenes DDR-Flüchtlingsschicksal

Zügig laufe ich aus dem Stall, aus dem Hoftor hinaus und auf dem Nachbargrundstück zu der Außenwand der aufgegebenen Stallungen. Ich bin so in meinem Element, dass ich das Brennen der hüfthohen Brennnesseln auf meiner Haut gar nicht wahrnehme, durch die ich barfuß und mit kurzen Hosen hindurchlaufe.

An einer Stelle trifft es mich wie der Blitz. Genau da ist es! Erstaunt bleibe ich stehen und höre mir selbst beim Reden zu, während die knappen Informationen mein System wie ein gewaltiger Download durchfluten: „Hier liegt noch ein Mann… er wollte mit seiner Frau aus der DDR fliehen… irgendwann in den 80er Jahren… wurde dabei angeschossen… blieb verletzt hier liegen… er litt qualvolle Schmerzen… der Traum von einer glücklichen Zukunft zerplatzt… er verkroch sich immer tiefer in der Erde… aus Angst davor, entdeckt zu werden… war hungrig und durstig… hilflos… Letztlich starb er qualvoll an den Folgen seiner Schusswunde… Seine Frau blieb in ihrer Verzweiflung noch lange Zeit als Magd auf dem Hof. Ohne einen neuen Partner. Kinderlos.“

Michael ist entsetzt und fassungslos. Ich kann den Hofbesitzer gerade noch davon abhalten, sofort mit dem Graben zu beginnen und nach den Überresten des Flüchtlings zu suchen.

Zuerst räuchere ich noch den Ort und segne ihn. Dann beginnt Michael noch an Ort und Stelle mit bloßen Händen zu graben.

Und er wird fündig. Fassungslos betrachtet er den menschlichen Knochen, der nach kurzem in seinen Händen liegt.

Wir sind uns sofort einig, dass wir alle Überreste bergen und sie in allen Ehren auf einem Friedhof beisetzen lassen sollten. Tief in mir spüre ich, dass wir die Ursache für die toten Tiere im Stall gefunden haben.

Warum die Tiere allerdings erst seit etwa vier Jahren reihenweise verendeten, bleibt ein Rätsel. Der Flüchtling lag sicherlich schon deutlich länger hier. Doch dieses Geheimnis verrät uns der Ort nicht.

Meine Arbeit ist für heute getan. Ich packe meine Sachen und verabschiede mich von einem tief berührten, nachdenklichen, aber hoffnungsvollen Mann. Er ist eindeutig noch verwirrt, aber dennoch voller Zuversicht und Tatendrang. Wir werden telefonieren.

Von der Dunkelheit ins Licht - die Heilung des Hofes

Michael berichtet mir am Telefon einige Tage später, was sich in der Zwischenzeit ereignet hat. Er hat alle Knochen sorgfältig ausgegraben und dem örtlichen Pfarrer übergeben. In einem Armenbegräbnis haben er und seine Schwester mit dem Pfarrer die Überreste des Flüchtlings bestattet. Begleitet von einer berührend schönen Rede des Pfarrers wurden die Knochen dem Erdboden übergeben.

Kurze Zeit später fasst sich Michael ein Herz und spricht sich mit seiner Frau aus. Sie zieht mit ihren gemeinsamen Kindern wieder ein, und nach und nach räumen sie zusammen mit Freunden den gesamten Hof auf und bringen ihn zum Blühen.

Auch heute noch schreiben Michael und ich uns oft. Er kann sein Glück kaum fassen.

Neues Leben auf dem Erlebnisbauernhof

Der Hof ist heute ein Erlebnisbauernhof zum Spielen, Streicheln, Anschauen und Mitmachen, mit Ferienzimmern für die Kinder. Ein Ort der Freude, an dem Tiere und Menschen gesund und munter sind. Selbst die zähnefletschenden Schäferhunde sind wie ausgewechselt – am liebsten tollen sie mit den Kindern um die Wette.

„Das ist echt ein Wunder!“, lacht Michael. „Dabei glaube ich doch nicht an Räuchern“, neckt er mich augenzwinkernd. Und lacht dabei aus vollem Herzen.

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