Eine wahre Begebenheit.
Erlebt von Helga Thein, aufgeschrieben und gelesen von Andrea Groh
Juhu! Endlich ist wieder schönes Wetter! Wunderbar, um heute zu einer Motorradtour in die Fränkische Schweiz aufzubrechen. Die Fränkische Schweiz – das heißt herrlich kurvige Straßen in einer traumhaften Umgebung. Für uns beide perfekt, denn wir sind keine Raser. Wir gondeln ganz gemütlich über die Straßen. Wir – das sind mein Mann und ich, die Helga.
Auf einer dieser traumhaften Straßen sehe ich links eine alte Eiche, die mich irgendwie fasziniert. Sie reckt ihr frisches Grün in die Sonne, das Licht und die Sonne spielen vergnügt mit den jungen Blättern. Es funkelt und strahlt um diesen schönen Baum, dass es eine wahre Freude ist!
Vor der Eiche sehe ich ihn plötzlich: ein junger Mann lehnt lässig an seinem Motorrad und raucht. Ich hebe kurz meinen Arm zum Gruß und düse weiter in die nächste Kurve. Meine Gedanken aber bleiben irgendwie an dem Motorradfahrer hängen. Irgendetwas war komisch an ihm… Doch ich weiß nicht genau, was. Es lässt mir keine Ruhe.
Einige Zeit später setzt mein Mann den Blinker, um eine kurze Pause zu machen. „Was ist los?“ fragt er, als er meinen nachdenklichen Gesichtsausdruck bemerkt. „Hast Du den Motorradfahrer bei der alten Eiche gesehen? Der war irgendwie… komisch…“ Mein Mann schaut mich verdutzt an. Ihm ist nichts aufgefallen. Seltsam, dass mein Mann den Motorradfahrer nicht bemerkt hat. Dabei fand ich ihn so auffällig! Habe ich mich vielleicht getäuscht? Doch, da stand jemand!
Ich beschließe kurzerhand, zur Eiche zurückzufahren und nachzusehen. Mein Mann nimmt derweil eine andere Route.
Und da ist auch schon die alte Eiche. Zum Glück steht auch noch der Motorradfahrer da! Ich habe mich also nicht geirrt! Erleichtert setze ich meinen Blinker und biege in den Weg zur alten Eiche ein.
Je näher ich komme, desto mehr wundere ich mich… Er sieht irgendwie… anders aus. Seine Kleidung, der Helm, die Stiefel und das Motorrad… alles erscheint retro, wie aus der Zeit gefallen.
Ich stelle meine Yamaha ab und gehe auf ihn zu. Er freut sich, mich zu sehen und nimmt einen weiteren Zug an der Zigarette. Ich sehe aber keine Glut.
Und auch keinen Rauch!
Mehr als merkwürdig.
Und so langsam dämmert es mir… diesen Motorradfahrer sehe wieder mal nur ich! Seit meiner frühesten Kindheit geht mir das so. Ich sehe Verstorbene. So klar und deutlich wie lebende Menschen auch. Genauso plastisch, genauso farbig, genauso scharf.
Ich taste mich langsam vor und beginne eine lockere Unterhaltung mit dem Motorradfahrer:
„Mein Name ist Helga. Wie heißt Du!“ – „Manfred.“ – „Hey, Manfred, wo kommst Du denn her?“ – „Hier aus der Gegend.“ – „Ah, ich auch! Wie lange bist Du schon hier?“ Sein Blick wird dunkler. „Keine Ahnung“ murmelt er und zieht schnell an seiner Zigarette. Wieder hat sie weder Glut noch Rauch.
Ein Schauer läuft mir über den Rücken und eine Ahnung beschleicht mich… Unschuldig frage ich: „Du, Manfred… winkst Du eigentlich allen Bikern, die hier vorbeifahren?“ – „Ja. Aber ich weiß nicht, warum sie nicht zurückwinken! Du bist die Einzige, die mich gegrüßt hat…“ – „Manfred, ich glaube, ich muss Dir etwas sagen. Die anderen grüßen Dich nicht, weil sie Dich nicht sehen…“
Manfred ist verwirrt: „Wie bitte? Was soll das heißen?“ – „Ähm… woran erinnerst Du Dich denn? Was ist als letztes passiert?“ Er überlegt: „Also… ich bin mit meinen Kumpels Motorrad gefahren. Wir sind in einen kurzen Gewitterregen gekommen… die Straße war nass. Und als die Sonne wieder durch die Wolken brach, hat sie sich in den Regenpfützen gespiegelt und mich für einen kurzen Moment heftig geblendet.“
Eine kurze Pause tritt ein. Er hängt seinen Erinnerungen nach. Nach einer Weile murmelt er: „Meine Kumpels sind alle weg…“
Mir ist plötzlich sonnenklar, was hier gerade passiert. Warum er so retro aussieht. Warum seine Zigarette keinen Rauch hat. Mir ist klar, warum ich die Einzige bin, die ihn gegrüßt hat. Er ist ein Verstorbener, der anscheinend keine Ahnung hat, dass er mit seinem Motorrad verunglückt ist. Puh… Nur, wie sage ich ihm das? Und… kann ich ihm irgendwie helfen?
Ich taste mich weiter langsam vorwärts: „Manfred, könnte es sein, dass Du einen Unfall hattest? Ich habe nämlich eine Vermutung, und die wird für Dich vermutlich recht eigenartig klingen. Kann es sein, dass Du mit dem Motorrad verunglückt und dabei gestorben bist?“
Schockiert und wütend schnauzt er mich an: „Was für ein Blödsinn! Ich bin doch noch da!“ Manfred ist sauer auf mich.
„Ja, ich verstehe, dass Du mir nicht sofort glauben kannst. Es ist wirklich nicht leicht zu verstehen. Aber ich kann Dich ins Licht bringen“ biete ich ihm an. Manfred wird immer wütender und stinkiger. „Hau ab!!!“ raunzt er mich an. Wie ein wütender Stier, den der Torero in der Arena zu sehr gereizt hat.
Ich bin ein wenig verloren. Weiß nicht, wie ich reagieren soll. Wie ich ihn von der Tatsache überzeugen kann, dass er tot ist.
Niedergeschlagen wende ich mich ab und gehe zu meinem Motorrad. „Tschüss, Manfred“ rufe ich ihm leise zu und fahre nach Hause.
Meine Nacht ist unruhig. Tausend Gedanken rasen durch meinen Kopf. Am nächsten Morgen stehe ich auf, schaue aus dem Fenster. Es regnet. So ein Mist! Dabei habe ich in der Nacht den Entschluss gefasst, nicht aufzugeben und dem Motorradfahrer zu helfen. Im strömenden Regen fahre ich zur alten Eiche, und da steht er.
Natürlich steht er da immer noch. Heute im strömenden Regen und raucht seine Zigarette. Wieder steigt kein Rauch auf, und obwohl er im strömenden Regen steht, sind seine Kleider trocken. Wieder ein Indiz für mich…
„Hallo Manfred“ sage ich, ein wenig unsicher. Der Regen prasselt auf meinen Regenschirm. Zu meiner Überraschung strahlt mich Manfred an und plappert drauf los: „Gut, dass Du da bist! Ich habe nachgedacht. Es ist wirklich auffällig: kein einziger Motorradfahrer grüßt! Und die Motorräder sehen ganz anders aus als meines! Wie Wespen! Die Fahrer sind komplett in Leder gehüllt! Und jetzt, wo ich Dich sehe… wir stehen beide im Regen, aber Du bist nass und ich trocken!“
Eine kleine Weile schweigt er und schaut zu Boden. Als würde eine Erkenntnis sich langsam den Weg an die Oberfläche bahnen.
Kurz darauf hebt er seinen Kopf: „Ich glaube, Du hast Recht. Ich bin vermutlich wirklich tot. Entschuldige, dass ich gestern so böse zu Dir war und Dich weggeschickt habe! Ich habe mich geirrt. Aber mir einzugestehen, dass ich tot bin, war echt ein ziemlicher Schock für mich.“
In diesem Moment leuchtet hinter ihm ein kleines Licht auf. Zunächst ganz klein, dann immer größer wird es zu einer Art Tor. Einem Portal. Es wirkt hell, freundlich und strahlt eine tiefe, innige Liebe aus. Fasziniert und tief berührt beobachte ich, was für ein Wunder hier gerade vor meinen Augen geschieht.
„Helga, kannst Du mir helfen?“ fragt Manfred mich nun hoffnungsvoll. Mein Herz jubelt und hüpft vor Freude! „Na klar!“ rufe ich begeistert! „Dreh’ Dich bitte um. Siehst Du hinter Dir das Licht?“
Manfred dreht sich um und murmelt: „Ja, ich sehe das Licht!“ Dann, deutlich überraschter: „Da ist mein Opa!“ – „Ja, Manfred, das Licht und er warten auf Dich. Du darfst zu ihm. Lauf los. Geh’ ins Licht. Dein Opa freut sich schon!“ – Voller Freude läuft Manfred los, dreht sich aber noch einmal kurz um. Er schickt mir einen letzten Bikergruß und tritt dann durch das Portal hindurch. Es schließt sich unverzüglich hinter ihm. Und Nichts deutet mehr darauf hin, dass hier gerade etwas wirklich Außergewöhnliches geschehen ist.
Ich stehe alleine im strömenden Regen, vor mir die alte Eiche. Ringsum nur klare, reine Natur. Meine Augen schweifen umher und bleiben an einem alten kleinen Holzkreuz hängen, das mir bis dahin nicht aufgefallen ist. Es ist geschmückt mit Plastikblumen, die schon etwas älter zu sein scheinen. Ihre Farben sind verblasst und die Konturen von Wind und Wetter ganz ausgefranst. Mein Blick fällt auf die Inschrift:
Manfred
1975
In Liebe
Deine Freunde