Eine wahre Begebenheit.
Erlebt von Helga Thein, aufgeschrieben und gelesen von Andrea Groh
Zum Hören und Eintauchen
Zum Lesen und Mitfühlen
Das Schnupfenzimmer
Eine ungewöhnliche Anfrage: Das geheimnisvolle Schnupfenzimmer
Ich finde es gleichermaßen amüsant wie unglaublich: Die Sekretärin einer mittelständischen Firma hat mich angerufen und mich gebeten, ihr „Schnupfenzimmer“ in der Firma – wie sie es nennt – zu räuchern. Angeblich wird jeder, der dort arbeitet, innerhalb kürzester Zeit krank und fängt sich mindestens eine hartnäckige Erkältung ein. Obwohl die Anfrage ungewöhnlich klingt, bin ich grundsätzlich für alles offen und sage zu. So erscheine ich pünktlich zum vereinbarten Termin vor Ort.
Die Villa mit zwei Gesichtern: Zwischen Tradition und Moderne
Das Firmengebäude ist eine elegante Villa im charakteristischen Baustil um 1900. Der warme, erdige Sandstein verleiht dem Gebäude eine natürliche Behaglichkeit, während hellere Natursteine einzelne architektonische Elemente wie Fensterrahmen, Türen und Simse kunstvoll betonen. Die hohen Fenster, eingerahmt von langen, elegant geschwungenen weißen Klappläden, blicken durch ihre filigranen Sprossenfenster aufmerksam in die Umgebung, als wären sie die wachsamen Augen des Hauses. Eine wuchtige, massiv gearbeitete Eingangstür wird von einer prächtigen Säulenveranda gekrönt, über der sich ein anmutiger kleiner Balkon erhebt.
An der Rückseite des Gebäudes schließt sich ein moderner, lichtdurchfluteter Anbau an, dessen großzügige Glasflächen, dezent eingesetzter Stahl und geschliffener Beton einen faszinierenden und harmonischen Kontrast zum historischen Altbau bilden – Vergangenheit und Gegenwart in architektonischer Symbiose.
Ein kühler Empfang und steife Umgangsformen
Ich steige die drei breiten Treppenstufen empor, drücke auf die Klingel und werde umgehend eingelassen. Gleich im Eingangsbereich begrüßt mich Emma, die Chefsekretärin. Sie ist eine kleine, füllige Frau ohne markante Formen, mit einer leicht nach vorne geneigten Haltung, die sie älter wirken lässt als sie vermutlich ist. Doch ihre Augen funkeln wach und verraten einen glasklaren, scharfsinnigen Verstand hinter der unscheinbaren Fassade. Ohne ein Wort, ohne jede weitere Erklärung gibt sie mir mit einem knappen Nicken zu verstehen, ihr zu folgen. Mit routinierten Bewegungen öffnet sie die schwere Tür zum Büro des Chefs und bittet mich mit einer wortlosen Geste einzutreten.
Ein rätselhafter Auftrag: Ein Mann, ein Befehl und viele Fragen
Im Büro steht ein hochgewachsener, fast beunruhigend schlanker Mann am Fenster, den Blick nach draußen gerichtet, während er bedächtig an seiner Pfeife zieht. Der aromatische Tabakduft hängt schwer in der Luft. Seine Haltung ist so aufrecht, steif und förmlich, als wäre sie einem längst vergangenen Jahrhundert entsprungen. Seine ganze Erscheinung flößt mir unwillkürlich Respekt ein, vermischt mit einem leisen Unbehagen. Ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, ohne jede Begrüßung und ohne die geringste Erklärung wirft er mir seine Anordnung mit fester, unnachgiebiger Stimme über die Schulter zu: „Räuchern Sie Raum drei! Bewahren Sie über das, was hier geschieht, absolutes Stillschweigen. Kein Wort an Dritte! Sollte irgendetwas davon in die Öffentlichkeit geraten, werden wir alles abstreiten und Sie der Verleumdung bezichtigen!“
Oha, denke ich. Das ist nicht gerade ein ‚Herzlich willkommen, wir freuen uns, dass Sie da sind!‘ Ein fröstelndes Gefühl kriecht meinen Rücken hinauf. Die Chefsekretärin räuspert sich diskret hinter mir und bittet mich mit einer kaum wahrnehmbaren Geste, ihr zu folgen. Ihr Chef dreht sich auch jetzt nicht nach mir um. Kein Blickkontakt. Nichts. Eine eigenartige, beklemmende Stimmung liegt wie ein unsichtbarer Schleier über diesem Ort.
Der dunkle Korridor: Betreten auf eigene Gefahr
Ich folge Emma in den Neubau. Wir gehen gemeinsam lange, glänzende Flure entlang, vorbei an zahlreichen Türen und geräuschlosen Aufzügen, bis wir vor einem dunklen Korridor stehenbleiben, dessen Eingangsglastür fest verschlossen ist. Meine Begleiterin holt ihren schweren Schlüsselbund aus der Rocktasche, sperrt mit routinierten Bewegungen auf, knipst das Licht an und murmelt kaum hörbar: „Dritte Tür links.“ Dann dreht sie sich ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz um und entfernt sich mit eiligen Schritten. Sie lässt mich völlig unvermittelt stehen! Berührt nicht einmal den Türgriff, sondern schwingt nur kurz die Tür auf. Ich muss mich beeilen und stelle reflexartig meinen Fuß dazwischen, damit die schwere Tür nicht wieder ins Schloss fällt.
Der Flur ist anders als der Rest des Gebäudes – vollkommen menschenleer. Ordentlich geputzt, aber offensichtlich ungenutzt. Die Luft hier drinnen scheint stiller, dichter zu sein, als würde sie Geheimnisse in sich tragen. „Auf geht’s, Helga“, spreche ich mir selbst Mut zu, während meine Stimme seltsam gedämpft in der Stille widerhallt. So eine Situation hatte ich noch nie erlebt… es wirkt, als ob hier ein dunkles Geheimnis unter den Teppich gekehrt wird, das unter keinen Umständen ans Licht kommen darf.
Räuchern gegen das Unsichtbare: Ein Raum voller Emotionen
Ich mache mich also bereit: Gleich hinter der Glastür bereite ich mein kleines Räucherkesselchen vor und ziehe meine Schuhe aus, um die Energien hier besser wahrnehmen zu können. Als die aufgelegte Kohle weiß glüht, lege ich behutsam die ersten Kräuter auf. Der würzige Duft steigt sofort in meine Nase, und ich beginne langsam, den Flur entlangzugehen.
„Oh mein Gott!“ Eine überwältigende Woge von Gefühlen überrollt mich unvermittelt wie eine eiskalte Sturzflut: Angst, Schmerz… unendlicher Schmerz und eine lähmende Ohnmacht, die mir den Atem raubt. Ich beginne am ganzen Körper zu zittern, und meine Beine drohen unter mir nachzugeben wie weiches Wachs. Kraftlos, mit schwindenden Sinnen, bewege ich mich schleppend durch den Flur und schleiche mehr, als dass ich gehe, in Richtung der dritten Tür. Die Kräuter in meinem Kesselchen verbrennen mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit, als würden unsichtbare Hände sie verschlingen. Ich komme mit dem Nachlegen kaum nach, meine Finger zittern dabei. Noch bevor ich bei der ominösen dritten Tür angelangt bin, hat mich eine heftige Erkältung mit eiserner Faust gepackt: Ich niese und schniefe, schwanke zwischen Schwitzen und Frieren, zittere unkontrolliert und spüre einen dumpfen, pochenden Schmerz hinter meiner Stirn. „So etwas ist mir ja noch nie passiert!“, murmle ich benommen vor mich hin.
Das mysteriöse Schnupfenzimmer: Luxus mit einem dunklen Geheimnis
Da endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, bin ich bei dem sagenumwobenen Schnupfenzimmer, der „Dritten Tür links“ angekommen. Zögernd, mit klammen Fingern, drücke ich die kühle Türklinke nach unten. Mein Herz rast. Ich bin auf alles vorbereitet – oder glaube es zumindest zu sein. Was verbirgt sich wohl hinter dieser unscheinbaren Tür? Vorsichtig, mit angehaltenem Atem, spähe ich hinein.
Zu meiner grenzenlosen Überraschung erwartet mich ein großer, lichtdurchfluteter Raum mit bodentiefen Fenstern. Vier modern ausgestattete Arbeitsplätze mit hellen, offensichtlich teuren Büromöbeln, ergonomischen Drehstühlen und großen Monitoren verteilen sich großzügig im gesamten Raum. Auf der rechten Seite neben der Tür reiht sich eine schicke Kaffeebar mit glänzenden Chrom-Geräten auf, auf der linken Seite laden feuerrote, elegant geschwungene Designersofas zum Verweilen ein. Ein überraschend nobler, einladender Raum!
Der Raum ist menschenleer, und doch wirkt er seltsam belebt, als würde er nur darauf warten, endlich mit Leben, mit Stimmen und Lachen gefüllt zu werden. Doch zunächst einmal füllt mein Räucherkesselchen den Raum immer mehr mit seinem aromatischen Rauch, hüllt ihn sanft ein und schafft einen zarten, feinen Nebel, der langsam dichter und dichter wird, bis er wie silbrige Schleier im Raum schwebt.
Eine Brücke ins Licht: Eine übernatürliche Erscheinung nimmt im Nebel Gestalt an
kaum noch auf den Beinen halten, schwenke aber nach wie vor mechanisch mein Räucherkesselchen vor mir her und lege mit zitternden Fingern immer wieder frische Kräuter auf die glühende Kohle. Der Rauch wird immer dichter, wabert durch den Raum wie lebendige Nebelschwaden.
Da, plötzlich – wie ein Wunder in der Nacht – bahnt sich ein einzelner, goldener Lichtstrahl langsam seinen Weg durch den Nebel und lässt die dichten Rauchschwaden wie feine, tanzende Schleier vor meinen ungläubigen Augen wirbeln. Der Raum verändert sich, als würde ein Vorhang zwischen den Welten beiseitegeschoben. Eine fast magische, heilige Stimmung breitet sich in mir aus und erfüllt den Raum mit einer spürbaren Präsenz. Alles wird plötzlich hell und weit und unendlich friedlich, als hätte jemand einen kosmischen Schalter umgelegt.
Die Seelenwanderung: Wer verlässt das Schnupfenzimmer?
Fasziniert, mit klopfendem Herzen, beobachte ich das Wunder, das sich gerade vor meinen Augen abspielt: Ich nehme wahr, wie zarte Schemen, erst kaum sichtbar, dann immer deutlicher, sich aus den Tiefen des Raumes lösen, den leuchtenden Lichtstrahl betreten und langsam, wie in einer feierlichen Prozession, nach draußen ins strahlende Licht schreiten. Dabei war der Raum doch leer! Aber ich kann sie jetzt ganz deutlich wahrnehmen, so als ob der mystische Rauch der Kräuter sie aus ihrem Schattendasein befreit und für meine Augen sichtbar gemacht hat: Männer, Frauen und Kinder, jung und alt, alle in schlichte weiße Kittel gehüllt, die im Licht sanft zu schimmern scheinen. Sie bewegen sich mal allein, mal zu zweit, mal in kleinen Gruppen. Die Kinder werden liebevoll von mindestens einem Erwachsenen an der Hand geführt, ihre Gesichter ruhig und friedlich. Immer mehr dieser ätherischen Wesen betreten den strahlenden Lichtpfad und wandeln gemessenen Schrittes nach draußen ins Licht, das sie sanft aufzunehmen scheint. Ich bin völlig gebannt, stehe wie versteinert da und betrachte mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Ungläubigkeit das unfassbare Schauspiel, das sich hier gerade vor meinen Augen entfaltet.
Je mehr dieser geisterhaften Menschen über die leuchtende Brücke schreiten, desto leichter wird es meinem gepeinigten Körper. Die Erkältungssymptome klingen so rasch ab, wie sie gekommen sind, als würde jedes Wesen, das ins Licht geht, ein Stück der Krankheit mitnehmen. Als der letzte Mensch – ein alter Mann mit weißem Haar und einem gelassenen Lächeln – den Lichtstrahl betritt, ist der Raum wieder leer. Ich blicke mich benommen um. Niemand ist mehr da, der gehen möchte. Der Lichtstrahl zieht sich nun stetig zurück, so sanft und bedächtig, wie er erschienen ist. Am Ende verschwindet er vollständig in dem strahlenden Portal, aus dem er zu strömen scheint. Das Portal aus reinem, warmem Licht schließt sich lautlos, und ich bleibe allein und staunend zurück, eingehüllt vom sich langsam lichtenden Rauch meiner Kräuter – ein zeitloser, magischer Moment, der sich in mein Gedächtnis brennt.
Der Skeptiker wird Zeuge: Ein Wandel beginnt
„Das ist ja verrückt!“, ertönt da urplötzlich eine tiefe, erschütterte Stimme aus dem Nichts und reißt mich aus meiner andächtigen Stille. „Hast Du das auch gesehen?“ Erschrocken drehe ich mich um und blicke direkt in das völlig verdutzte Gesicht des Firmenchefs, dessen Augen weit aufgerissen sind. „Ja, das habe ich!“, gebe ich ebenso verwundert zurück. Wie ist er nur hier hereingekommen, ohne dass ich seine Schritte gehört habe? Und warum jetzt dieses vertraute Du, wo vorher nur kühle Distanz war? Von der strengen, befehlsgewohnten Fassade ist jedenfalls nichts mehr übrig geblieben. Mit ungläubigen, fast kindlich staunenden Augen starrt er an den Ort, an dem sich vor wenigen Augenblicken das mysteriöse Portal vor unseren Augen geschlossen hat. Mit einem knappen, aber merkwürdig herzlichen Händedruck und einem kurzen, ehrfürchtigen Dank verabschiedet mich der Chef hastig, als müsste er dringend seine Gedanken ordnen. Ich packe meine Sachen und lasse einen sichtlich erschütterten Menschen zurück. Irgendwie habe ich das starke Gefühl, dass hier gerade auf mehreren Ebenen etwas Wunderbares, Transformierendes geschehen ist, das weit über das Räuchern eines Raumes hinausgeht.
Die Geschichte des Ortes: Ein altes Krankenhaus offenbart sein Geheimnis
„Weißt Du, Helga“, beginnt Alexander, der Firmenchef, am nächsten Tag am Telefon mit einer Stimme, die zwischen Aufregung und philosophischer Nachdenklichkeit schwankt. „Ich habe ja nie an so etwas wie verfluchte Orte geglaubt, habe mich immer als rational denkenden Menschen gesehen. Aber das gestern im Schnupfenzimmer… das war mein Erlebnis, meine persönliche Offenbarung! Haben wir das wirklich gesehen? Hat das wirklich ausgesehen wie eine leuchtende Brücke? Und auf dieser Lichtbrücke waren wirklich verschiedene Menschen zu sehen? Ich glaube, mein gesamtes Weltbild hat einen gehörigen Schubser bekommen und mir eine völlig neue Sichtweise eröffnet…“ Seine Stimme klingt jünger, lebendiger als am Tag zuvor. „Wusstest Du“, fährt er mit wachsender Begeisterung fort, „dass auf diesem Grundstück früher ein kleines Krankenhaus stand, das von einem Orden barmherziger Nonnen unterhalten wurde? Einige der Verstorbenen wurden auch hier auf dem Gelände beerdigt. Man hat bei den Bauarbeiten für den Anbau einige wenige Gräber gefunden, die respektvoll umgebettet wurden. Ist das nicht faszinierend? Das muss ich unbedingt meiner Frau und meinen Freunden erzählen! Darf ich?“ – „Na klar“, lache ich hocherfreut und erleichtert. „Das ist eine Geschichte, die unter die Leute muss!“
Vom Fluch zur Transformation: Ein Ort heilt und ein Unternehmen wandelt sich
Unser gemeinsames, unbeschreibliches Erlebnis im Schnupfenzimmer sollte der Beginn einer langen und tiefen Freundschaft werden, die uns beide veränderte. Der ehemals krankmachende Raum wurde umgestaltet und wird mittlerweile ganz normal genutzt, ohne dass jemals wieder jemand dort erkrankt wäre. Das Unternehmen wird inzwischen sehr erfolgreich in der vierten Generation geführt und hat seinen Weg in die moderne Arbeitswelt gefunden. Ein weiterer, lichtdurchfluteter Neubau wurde verwirklicht, und wo früher ein steifer, verschlossener Umgangston herrschte, regiert heute eine spürbare Leichtigkeit und menschliche Wärme. Als hätte sich an diesem einen magischen Tag damals eine große Portion angesammelte Schwere und alter Schmerz aufgelöst und Platz gemacht für Leichtigkeit, Licht und Lebensfreude – nicht nur für die Seelen, die ihren Weg ins Licht fanden, sondern auch für die Lebenden, die zurückblieben.