Die Künstlerin und das Eichhörnchen

Eine wahre Begebenheit.
Erlebt von Helga Thein und Andrea Groh, aufgeschrieben und gelesen von Andrea Groh

Zum Hören und Eintauchen

  Zum Lesen und Mitfühlen

Die Künstlerin und das Eichhörnchen

Der Beginn einer außergewöhnlichen Geschichte: Wenn die Vergangenheit nach Antworten ruft

Es gibt Geschichten, die erst nach Jahren ihren wahren Abschluss finden. Sie sind wie ein Puzzle, bei dem große und entscheidende Teile fehlen. Und erst, nachdem die fehlenden Teile Jahre später eingefügt werden, ergibt sich das ganze Bild, und alles wird plötzlich sonnenklar. Der Kreis schließt sich.

Als Helga mir heute von ihrem Erlebnis mit der Künstlerin und dem Eichhörnchen erzählt, spüre ich sofort: Bei diesem Erlebnis von vor 20 Jahren handelt es sich um ein unvollständiges Puzzle. Etwas stimmt ganz und gar nicht. Nicht, dass ich an ihrer Geschichte zweifle, aber es fühlt sich an, als würden einige lose Enden immer noch in Zeit und Raum umherwandern und darauf warten, endlich richtig zusammengeschlossen zu werden. Aber eins nach dem anderen.

Eine besondere Atmosphäre: Das Interview in der Dachgeschosswohnung

Wir sitzen in meiner Dachgeschosswohnung mitten in der Stadt, auf dem Tisch duftender Tee, Helgas Notizbuch und mein Laptop. Mein Hund Phoenix hat es sich in seinem Kuschelbettchen bequem gemacht und lässt sich sein Fell genüsslich von der Frühlingssonne wärmen. Das Licht flutet durch die großen Fenster den ganzen Raum und lässt kleine Staubpartikel wie winzige Sterne im Sonnenlicht tanzen.

Helga und ich haben uns getroffen, um sie über ihre Erlebnisse zu interviewen, sodass ich sie aufschreiben und veröffentlichen kann. Üblicherweise schnappe ich mir dazu Helgas Notizen und gehe sie nach und nach mit ihr zusammen durch. Wo immer ich Fragen habe, hake ich nach. Doch dieses Mal spielen wir ein anderes Spiel.

Auf dem Weg in die Küche rufe ich Helga über die Schulter zu: „Welche Geschichte sollen wir schreiben? Sag einfach eine Zahl.“ „Wie wär’s mit der Nummer drei?“, meint sie. „Klingt gut“, antworte ich aus der Küche. „Ich lese vor!“, ruft Helga ganz begeistert und entgegen unserer üblichen Arbeitsweise.

Zurück im Wohnzimmer mit einer frischen Thermoskanne voll indischem Gewürztee, einem Glas Honig und zwei frischen Tassen setze ich mich auf die schwarze Ledercouch, lehne mich zurück und lausche Helga, die sich ihr Notizbüchlein geschnappt hat und beginnt vorzulesen:

Helgas Erlebnis: Die Künstlerin und das Eichhörnchen - Wo Kreativität auf ein mysteriöses Beobachtet werden trifft
„Die Künstlerin und das Eichhörnchen“

Das lichtdurchflutete Atelier liegt ebenerdig und ein wenig zurückversetzt in einer ruhigen Gegend. Große alte Bäume umgeben den eingeschossigen Anbau mit seinem großen, hohen Raum mit den bodentiefen Fenstern.

Unfertige Leinwände lehnen an den Wänden, manche noch jungfräulich weiß, andere mit ersten Farbspuren versehen, die wie abgebrochene Sätze wirken. An den Seiten Tische mit dem typischen Werkzeug eines Bildhauers: Bildhauereisen, Schnitzmesser, Stemmeisen, Meißel und Fäustel in allen Formen und Größen.

In der Mitte steht ein großer quadratischer Stein, grob behauen. Die Künstlerin steht mit dem Rücken zu mir und arbeitet sich gerade an dem Stein mit wuchtigen Schlägen ab, als ich eintrete. Auf mein lautes Hallo hin dreht sie sich um, und ein breites Lachen unter einer noch größeren blauen Kunststoffbrille begrüßt mich freudestrahlend. „Na endlich!“, begrüßt sie mich. „Da bist Du ja endlich! Hast Dir ganz schön Zeit gelassen… Wie lange kennen wir uns jetzt schon und laufen uns immer wieder sporadisch über den Weg? Das müssen doch mehr als 20 Jahre sein, richtig?“ – „23 Jahre, um genau zu sein“, erwidere ich. „Unsere gemeinsame Schulzeit ist schon ein wenig her…“ Lachend fallen wir uns in die Arme.

„Erzähl mal, warum wolltest Du, dass ich komme? Du wolltest am Telefon nicht so recht mit der Sprache raus…“ frage ich meine alte Schulkameradin Renate. Ihre Hände zupfen nervös am Saum ihres Künstlerkittels, ihre Augen huschen prüfend durch den Raum und suchen den Garten ab.

Eine ungewöhnliche Begegnung: Das beobachtende Eichhörnchen

„Es beobachtet mich“, murmelt Renate leise. „Seit Wochen. Immer wenn ich male oder an meinen plastischen Kunstwerken arbeite, sitzt es da. Es kontrolliert mich.“ Sie deutet zum Fenster. „Das Eichhörnchen. Es starrt mich an. Ich kann keinen Pinselstrich mehr machen, ohne diese Augen auf mir zu spüren. Ich bin schon total blockiert!“

Okay, denke ich bei mir. Ein Eichhörnchen als Kontrollfreak mit Überwachungsauftrag… naja, nicht unbedingt üblich und schon wirklich skurril… aber wer weiß, was an der Geschichte dran ist. Ich bin auf alle Fälle neugierig. Doch ich behalte meine Gedanken für mich und blicke die Künstlerin aufmunternd an.

„Das geht schon seit Wochen so!“, flüstert Renate eindringlich. „Es hüpft munter über den Rasen, springt keck von Ast zu Ast oder saust die Bäume hoch, oft klaut es die Nüsse von der Fensterbank, die ich dorthin gelegt habe. Manchmal kommt es sogar in mein Atelier, wenn ich die Fenster offen habe und hüpft über die Tische, Bilder und Skulpturen! Und immer schaut es mich dabei durchdringend an. Prüfend. Es ist ein ganz tiefer, intensiver Blick! Völlig verrückt… Manchmal erscheinen dabei seltsame kleine Halbmonde in allen Farben des Regenbogens an den Wänden.“

„Und als ob das noch nicht genug wäre, es folgt mir neuerdings sogar in meine Träume! Seit ein paar Tagen schlafe ich nicht besonders gut. Ich schrecke immer wieder aus dem Schlaf hoch, weil mich dieses Eichhörnchen im Traum mit großen Augen anstarrt. Manchmal hat es sogar ein Fernglas vor den Augen, durch das es mich durchdringend fixiert! Das ist doch irre!“

„Ja, das ist schon sehr speziell…“ nicke ich zustimmend. „So richtig kann ich mir da gerade auch keinen Reim darauf machen. Sehen wir einfach mal, was sich beim Räuchern zeigt.“ spreche ich ihr Mut zu und bereite meine Räuchersachen vor.

„Ich bin doch nicht verrückt, oder?“ flüstert die alte Schulkameradin an meiner Seite. „Glaubst Du mir? Kannst Du mit dem Räuchern dieses verflixte Eichhörnchen bitte vertreiben? Es macht mich echt Gaga…“ Unruhig und nervös läuft die Künstlerin im Raum auf und ab. Die Sache mit dem Eichhörnchen setzt ihr offensichtlich wirklich zu.

Ich entzünde die Kohle und lege eine passende Kräutermischung auf. Salbei, Beifuß und Wacholder vereinen sich zu einem wunderbar würzigen Duft. Ich folge mit meinem Blick den weißen Rauchschwaden, die träge durch den Raum ziehen, als hätten sie alle Zeit der Welt. Nach und nach erfüllt der Rauch das ganze Atelier. An der Decke erblicke ich einen Rauchmelder. O-oh, der könnte bald losgehen… „Kannst Du den ausschalten falls er losgehen sollte?“ frage ich Renate. „Klar“ meint sie, saust in eine Ecke des Ateliers und kommt mit dem Werkzeug ihrer Wahl, einem Staubwedel an einem langen Stil, wieder zurück. Wir sind also bestens vorbereitet.

Die überraschende Entdeckung: Von der Kamera im Rauchmelder

Der süßliche Duft von Salbei und Wacholder erfüllt das Atelier, wird dichter und dichter. Durch die hohen Fenster fällt spätes Nachmittagslicht, das die aufsteigenden Rauchschwaden in geheimnisvolle Schleier verwandelt. Und es passiert… nichts. Rein gar nichts. Kein kontrollierendes Eichhörnchen, keine Ahnen, keine Energien, keine Flüche. Einfach nichts.

„Na, ein wenig mehr Action hätte ich jetzt schon erwartet!“ murmele ich etwas verwundert vor mich hin. Renate zuckt nur entschuldigend die Achseln.

Plötzlich reißt uns ein schriller Alarmton aus unseren Überlegungen, und die Künstlerin und ich schreien erschrocken zur gleichen Zeit auf! Ein scharfes Piepen durchschneidet die mystische Atmosphäre… der Rauchmelder! Renate schießt auf ihn zu und schlägt mit dem Staubwedel auf das Kästchen ein, bis es klappernd zu Boden fällt. Schlagartig verstummt der Alarm. Wie erstarrt blickt die eben noch so mutige Staubwedelkämpferin auf die Einzelteile am Boden: eine unschuldige weiße Abdeckung, eine kantige Batterie und ein dubioses schwarzes Kästchen.

„Was ist denn das?“ nähere ich mich vorsichtig dem unheilvollen Ding. Langsam hebt meine Schulfreundin das schwarze Etwas auf und legt es vorsichtig auf einen Tisch. Mir fällt noch etwas am Boden auf: ein kleines rundes Glas. Wie zwei Detektive puzzeln wir alle Einzelteile wieder zusammen… und siehe da, das kleine runde Glas passt perfekt in eine Öffnung des quadratischen Kunststoffteils. Wie durch einen Spion blickt man durch das Glas auf einen Chip mit Lötstellen.

Etwas ratlos blicken wir uns beide an. „Ist das… eine Überwachungskamera?“ raunt mir Renate zu.  Sie schnappt sich die Kamera und dreht sie vorsichtig in ihren Händen, als könnte sie nicht begreifen, was sie da sieht. „Wurde ich etwa die ganze Zeit über tatsächlich beobachtet? Aber von wem? Und warum? Und wer hat diese Kamera hier montiert? Nur ich habe den Schlüssel zu diesen Räumen… Es ergibt alles keinen Sinn…“ Ein hysterisches Lachen entringt sich ihrer Kehle. Sie gluckst: „Naja, aber wenigstens ist das Eichhörnchen unschuldig und ich leide nicht an Wahnvorstellungen“.

„All die Wochen“, murmelt sie, „all die Wochen dachte ich, ich werde verrückt. Dachte, ich bilde mir diese Blicke ein, diese ständige Beobachtung.“ Sie lacht, aber es klingt bitter. „Und jetzt das. Eine echte Kamera. Während ich ein niedliches Eichhörnchen im Verdacht hatte.“

Wir bauen den Rauchmelder ohne die Kamera wieder zusammen und befestigen ihn wieder an der Decke. Er funktioniert auch ohne die Kamera tadellos. Auf dem Boden finden wir beim Zusammenräumen noch weitere kleine Teilchen, Tesa-Film und kleine Kabel. Sie müssen sich beim Sturz aus dem Rauchmelder gelöst haben. Seltsam. Auch wenn wir uns beide keinen Reim auf die ganze Sache machen können, Renate ist sichtlich erleichtert und beruhigt: Eichhörnchen sind anscheinend doch ganz normale putzige Tierchen und keine kontrollierenden Überwachungsspezialisten mit der Absicht, den kreativen Flow von Künstlern zu erschüttern.

Wenn eine Geschichte zu Ende ist und unzählige Fragen offen bleiben

Helga beendet mit diesen Worten ihre Geschichte und klappt das Buch zu. Ich bin irritiert. Für mich ergibt die Geschichte hinten und vorne keinen Sinn – ich fühle, dass etwas nicht stimmt. Es fühlt sich nicht an, als wäre sie zu Ende. Warum diese Überwachungskamera, wenn es denn eine war? Und was hat es mit dem Eichhörnchen auf sich? Warum hat es Renate sogar im Traum verfolgt? Und warum diese Ambivalenz in Bezug auf das Eichhörnchen? Einerseits legt sie extra Nüsse für den kleinen Nager aus, andererseits hat sie Angst vor ihm und ruft extra Helga zum Räuchern, um es zu vertreiben? War es eine Projektion ihrer eigenen Ängste, ein Spiegel?

Mein Gehirn versucht, eine Struktur in den verschiedenen losen Fäden zu finden. Fragend blicke ich Helga an: „Helga, worum ging es in der Geschichte wirklich?“ Achselzuckend nimmt sie einen Schluck Tee und beobachtet eines der tanzenden Staubkörnchen im Licht. Einem Impuls folgend ziehe aus meinem Bücherregal meine beiden Lieblingsbücher über Krafttiere. Mal sehen, ob uns das Eichhörnchen auf die Spur bringt. Mein innerer Sherlock Holmes zumindest wittert eine Fährte…

„Darf ich Dir den Abschnitt vorlesen?“, frage ich Helga. Sie nickt, während sie ihre Hände um die Teetasse geschlungen hält und das Sonnenlicht ihre Haare von hinten wie eine Lichtkrone umspielt. Ich blättere durch das Buch bis ich den Eintrag zum Eichhörnchen gefunden habe und beginne, die vier Seiten vorzulesen. Meine Sinne sind hellwach. Mit meinen Augen lese ich den Text, mit meinen anderen Sinnen ertaste ich die Energie im Raum. Ich versuche wahrzunehmen, ob ein bestimmter Abschnitt, ein bestimmter Satz oder ein bestimmtes Wort bei Helga eine Reaktion auslöst, die uns zur wahren Lösung und dieser Geschichte führt.

Und tatsächlich… nachdem ich geendet habe, blickt mich Helga ungläubig und mit großen Augen an: „Das war kein Text über ein Eichhörnchen, sondern das war eine perfekte Beschreibung von Renate, wie ich sie kannte! Unglaublich!“ Ich lag mit meinem Instinkt also genau richtig. Wunderbar! Aus Erfahrung weiß ich, dass ungewöhnliche Begegnungen mit Tieren immer eine Botschaft für uns haben. Die Kunst ist nur, sie wahrzunehmen.

Kann es sein, dass es bei der Künstlerin von vor 20 Jahren eigentlich um die Botschaft des Eichhörnchens ging? Um eine Nachricht, die es überbringen wollte und die damals nicht gehört wurde? Gemeinsam finden wir die Stelle im Text, in der Helga und ich die Lösung finden:

Die tiefere Bedeutung: Das Eichhörnchen als spiritueller Wegweiser

„Kommt das Eichhörnchen in dein Leben“, lese ich noch einmal, „fordert es dich auf, dich deiner Umwelt aktiv zuzuwenden und dich mit ihr auseinanderzusetzen, andererseits aber auch zu bestimmten Zeiten Rückzug zu suchen, zu reflektieren und dir Zeit zu nehmen, nach innen zu gehen und für dich zu sein. Es erinnert dich daran, auf dich selbst zu hören und deine Kräfte kennenzulernen, auszuloten und einzuteilen. Es hilft dir, Reserven anzulegen, dich nicht zu verausgaben und das Gleichgewicht in dir, deiner Umwelt und in deinem Leben zu finden.“

„Genau das ist es“ murmelt Helga. Sie ist eingetaucht in die Energie der damaligen Zeit. Sie ist hier und gleichzeitig bei den Ereignissen von vor 20 Jahren. Als wäre sie gerade in beiden Zeitsträngen gleichzeitig zuhause. „Genau das hätte sie damals hören müssen“, flüstert sie. „Damals schon. Auf der einen Seite eine so begabte und angesehene Künstlerin, gleichzeitig aber voller Angst, sich selbst anzunehmen. Hinter der Fassade lagen Minderwertigkeitsgefühle und Zweifel. Angst, die Inspiration zu verlieren. Großherzig, liebenswert, feinfühlig. Für andere hätte sie ihr letztes Hemd gegeben, aber sich selbst hat sie keine Ruhe gegönnt. Sie hat die schlechten Energien ihres Umfeldes absorbiert, in sich aufgenommen, und keine Grenzen gezogen.“ Nach einer Pause fügt sie hinzu: „Wusstest Du, dass sie vor zwei Jahren ganz überraschend an Krebs starb? Als hätte ihr Körper all die aufgenommene Energie nicht mehr halten können.“

Eine Erkenntnis durchströmt mich. „Helga“, sage ich vorsichtig, „meinst Du, die Botschaft des Eichhörnchens hätte daran etwas ändern können, wenn sie damals als solche erkannt worden wäre?“ Sie atmet tief ein, schließt die Augen. „Ja“, sagt sie dann fest. „Ja, das hätte es.“ In ihrer Stimme liegt eine Gewissheit, die keiner weiteren Erklärung bedarf.
Die späte Nachmittagssonne wirft lange Lichtstrahlen durch das Dachgeschoß. Ein vertrautes Gefühl der Zeitlosigkeit breitet sich in mir aus, als würden Vergangenheit und Gegenwart für einen Moment ineinanderfließen. Als wäre dies der richtige Moment, um etwas zu Ende zu bringen, das vor zwanzig Jahren begann.

Der spirituelle Abschluss: Eine Heilung jenseits der Zeit

Die Worte kommen wie von selbst über meine Lippen: „Helga, möchtest du die Künstlerin fragen, ob sie sich aus diesem energetischen Prinzip lösen möchte? Auch wenn sie…“ Ich stocke kurz, „…auch wenn sie schon gestorben ist?“ Für einen Moment flackert eine leichte Irritation über das Gesicht meiner Freundin, etwas scheint sich in ihr zu sträuben, doch dann wird ihr Blick weich, nach innen gerichtet. Sie nickt, fast unmerklich. Der Raum scheint den Atem anzuhalten, als Helga Kontakt mit der verstorbenen Künstlerin aufnimmt.

„Ups!“, entfährt es ihr plötzlich. Ihre Augen weiten sich überrascht. „Sie wartet ja schon auf mich! Genau wie damals! Sie ist bereit… und dankbar.“ Helgas Stimme klingt anders jetzt, hell und klar wie ein Windspiel. „Na endlich bist du da!“, sagt die Künstlerin. „Hast dir ja ganz schön Zeit gelassen!“

Während Helga diese Worte ausspricht, verändert sich etwas im Raum. Es beginnt subtil, wie ein Flimmern in der Luft das ich mehr ahnen als sehen kann. Dann wird es spürbar: Eine Weite öffnet sich, als würden die Wände sanft zurückweichen. Es wird weit, weich, offen, unendlich friedlich und hell. Das Licht scheint von überall und nirgendwo zugleich zu kommen.
Helga sitzt ganz still, ihr Gesicht entspannt und gleichzeitig voller Staunen. „Sie löst sich auf“, flüstert sie. „Sie löst sich in reines Licht auf… Wenn ich’s richtig wahrnehme, geht sie erst jetzt ins Licht. Als hätte sie zwei Jahre seit ihrem Tod nur darauf gewartet. In all der Zeit saß sie da, als würde sie auf einen Bus warten, der nicht kam.“

Das Gefühl von Weite und Offenheit wird überwältigend. Wir können es beide spüren. Es ist, als hätte jemand ein Fenster in eine andere Dimension geöffnet. Die Luft vibriert wie eine Nullpunktenergie. Ein Feld, in dem Zeit und Raum nur eine weitere Variable sind, mit der wir spielen können. Friedlich, frei, weit, offen und unendlich lichtvoll. Ein Raum außerhalb unserer normalen Wahrnehmung und doch so unendlich vertraut. Die Grenze zwischen dieser Welt und der anderen ist in diesem Moment durchlässig wie ein Seidenschleier.

Helga und ich sitzen still da, Phoenix schläft immer noch tiefenentspannt in seinem flauschigen Kuschelkissen. Die Frühlingssonne taucht den Raum in warmes Licht. „Es ist, als wäre ein Kreis geschlossen worden“, sagt sie leise. „Als hätte diese Geschichte nur darauf gewartet, wirklich ganz zu Ende erzählt zu werden.“ Sie lächelt. „Weißt du, was das Verrückteste ist? Und das nur, weil wir beide diese Geschichte heute aufschreiben wollten.“

Ein letzter Sonnenstrahl fällt durch die Fenster, tanzt durch die Luft und wirft tanzende Lichtreflexe an die Wand. Sie erinnern an die Rauchschwaden von damals, an die geheimnisvolle Atmosphäre im Atelier. Aber anders als damals, ist der Kreis jetzt wirklich geschlossen.

Manchmal frage ich mich, ob gewisse Erlebnisse wie Zeitkapseln sind. Sie tragen ein halb fertiges Bild in sich, das erst Jahre später, wenn wir bereit sind, zu einer vollständigen Gestalt geschlossen werden kann. Helgas Erlebnis von der Künstlerin und dem Eichhörnchen war so eine Zeitkapsel. Und heute war anscheinend die Zeit, um die Geschichte jenseits von Zeit und Raum vollständig und die Heilung zu bringen.

Epilog: Die Botschaft des Spechts

Am Morgen danach laufe ich eine kleine Runde durch den Stadtpark. Es ist frostig kalt, aber wunderschön sonnig. Über den Fluss ziehen kleine Nebelschwaden, und die Vögel zwitschern munter in den Zweigen. Da fallen direkt vor meine Füße kleine Rindenstückchen vom Baum. Immer wieder. Ein Rindenstückchen nach dem nächsten, begleitet von einem gleichmäßigen Klopfen über mir.

Verwundert blicke ich nach oben und traue meinen Augen kaum: In nicht einmal zweieinhalb Metern Höhe sitzt ein Specht mit seinem hübschen roten Mützchen und hackt emsig in die Rinde. Er lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen, sodass ich ihn eine ganze Weile betrachten kann. Das ist mir noch nie passiert! So nahe war ich noch keinem Specht, und schon gar nicht hier, mitten in der Stadt! Ich bedanke mich für sein Auftauchen und für seine Botschaft. Gleich wenn ich zuhause bin, lese ich in dem Krafttierbuch nach der Botschaft des Spechts. Es liegt eh noch auf dem Tisch, als hätte ich gewusst, dass es noch gebraucht wird.

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