Eine wahre Begebenheit.
Erlebt von Helga Thein, aufgeschrieben und gelesen von Andrea Groh
Zum Hören und Eintauchen
Zum Lesen und Mitfühlen
Die Dame in rot
Ein mysteriöser Hilferuf führt zu einer außergewöhnlichen Begegnung
Wieder einmal führt mich mein Weg ins Bamberger Umland. Ein gewisser „Fred“ hat mich angerufen und mich gebeten, zu ihm zum Räuchern zu kommen. Den Grund dafür behielt er am Telefon für sich. Meine Neugier ist entsprechend geweckt.
Als ich am vereinbarten Ort eintreffe, winkt mir ein älterer Herr freundlich zu. Vor mir steht ein jugendlich wirkender, sportlich durchtrainierter Mann in Jeans, Polohemd und legerer Sportjacke. Das volle weiße Haar fällt ihm wellig bis auf die Schultern. Mit seiner aufrechten Haltung und den strahlenden Augen könnte er glatt als Mittfünfziger durchgehen – ich kann kaum glauben, dass er tatsächlich 79 Jahre alt ist.
Noch bevor wir das Haus betreten, zieht er mich zögernd ins Vertrauen: „Helga… irgendetwas ist seltsam!“ Seine Worte kommen stockend, als wäre ihm seine Offenheit unangenehm. Als sei er unsicher darüber, wie ich wohl reagieren würde. „Im Haus hängen viele Bilder, alte Ölgemälde, die mir sehr am Herzen liegen. Ich habe sie akkurat ausgerichtet und staube sie einmal pro Woche ab.“ – „Und was erscheint dir daran seltsam?“, hake ich nach. „Nun ja…“, druckst er herum und ringt nach Worten. „Ich bin weder verrückt noch dement, das musst du mir glauben!“ Wieder verfällt er in Schweigen. Geduldig warte ich ab, bis er seinem nächsten Gedanken Ausdruck verleiht. „Ich bilde mir das auch nicht ein!“, murmelt er vor sich hin. „Was denn?“, frage ich behutsam. „Nun… ich glaube, meine verstorbene Mutter wohnt in diesen Bildern und möchte mit mir sprechen.“ „Ja, so etwas gibt es. Wo liegt dein Problem damit?“, erkundige ich mich.
Etwas unwirsch poltert er los: „Also erstens verstehe ich sie in diesem heillosen Durcheinander nicht! Es reden einfach zu viele in allen möglichen Sprachen durcheinander! Und zweitens will ich nicht mit ihr sprechen! Das würde ja bedeuten, dass ich den Verstand verloren habe! Wer unterhält sich denn bitteschön mit seinen Bildern?!?“
Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. Wenn er wüsste, mit wem oder was ich mich schon unterhalten habe… sprechende Bilder sind da noch von der harmlosen Sorte.
„Erstens“, greife ich seine Ausdrucksweise auf, „helfe ich dir gerne dabei, deine Mutter zu verstehen – falls es tatsächlich sie ist, die mit dir sprechen möchte. Ich vermute allerdings, dass es um etwas oder jemanden anderes geht. Aber das werden wir herausfinden. Und zweitens liegt ‚Verrücktsein‘ stets im Auge des Betrachters. Für mich ist es durchaus normal, mit Gegenständen, Naturelementen oder Orten zu kommunizieren.“
Fred nickt langsam, sichtlich erleichtert, dass ich ihn nicht für verrückt halte. Gemeinsam laufen wir auf das Haus zu.
Das herrschaftliche Haus: Ein Kunstparadies mit geheimnisvoller Atmosphäre
Das alte Herrschaftshaus ist zweistöckig, frisch renoviert und makellos gepflegt. Die großen weißen Sprossenfenster reichen im Erdgeschoss bis zum Boden und bilden einen eleganten Kontrast zum zarten Hellblau der Fassade. Die zweiflügelige Eingangstür lädt den Besucher förmlich ein, die eleganten Steinstufen emporzusteigen und einzutreten. Beim Näherkommen bestaune ich das kunstvoll geschliffene Glas der Eingangstür. Blumen und Ranken zieren die Seiten jeder Scheibe wie ein exquisites Kunstwerk.
Das Anwesen liegt in einem gepflegten, kunstvoll angelegten Garten. Eine mächtige Kastanie, um die sich eine einladende Bank schmiegt, steht im Zentrum. Ein sanft plätschernder Bachlauf und sorgfältig gestaltete, geschwungene Wege, die von niedrigen Buchsbaumhecken gesäumt werden, winden sich durch den ganzen Garten. Die Anlage harmoniert perfekt mit dem Gebäude, das man fast schon als Landsitz bezeichnen könnte. Alles strahlt Stil, Eleganz und erlesenen Geschmack aus.
Der 79-Jährige öffnet die imposante Eingangstür, und wir betreten einen herrschaftlichen, weitläufigen Flur mit einem breiten und eindrucksvollen Treppenaufgang. Das helle Holz der Treppe schwingt sich elegant in den oberen Stock, das Geländer kunstvoll mit fein gedrechselten Rosen verziert. Die alten Ölgemälde bedecken alle Wände in einer wohl durchdachten Anordnung und sind durch gezielt platzierte Spots perfekt ausgeleuchtet. Das ganze Ensemble wirkt wie eine sorgfältig komponierte Symphonie – als hätte jemand verschiedene Melodien zart und elegant zu einem harmonischen Ganzen verwoben.
Sprechende Gemälde und rätselhafte Energieverluste: Ist Fred verrückt geworden?
Doch die elegante Schönheit wird überlagert von einer gewissen Unruhe, die ich deutlich wahrnehme. Mir ist klar, dass hier mehr als nur eine Stimme spricht… Von den Portraits dringen verschiedensprachige Stimmen und leises Wispern durch den Raum. Die Naturbilder steuern das Rauschen ihrer Stürme und das Ächzen der Bäume bei, während die Teegesellschaften junger Damen ihr Gekicher und Getuschel in den akustischen Teppich weben. Vom Gemälde der Jagdgesellschaft schallt Hundegebell herüber, begleitet vom Donnern der Pferdehufe und den Klängen des Jagdhorns. Es ist eine einzige akustische Reizüberflutung – ein Kaleidoskop aus Klang und Chaos.
„Stopp!“, rufe ich mit Nachdruck, und tatsächlich – die Geräuschkulisse dämpft sich augenblicklich. Ein verhaltenes Flüstern durchzieht den Raum, ein verschämtes Raunen, als fühlten sich die Porträtierten bei etwas Unschicklichem ertappt. Offenbar ist es für sie neu, dass jemand sie nicht nur wahrnimmt, sondern auch zur Ordnung ruft.
Mein Gastgeber wirkt ebenfalls verunsichert. Er missversteht meinen Ausruf als Ablehnung und befürchtet wohl, dass ich ihm nicht helfen kann oder will. „Keine Sorge“, beruhige ich ihn und bereite in aller Ruhe mein Räucherkesselchen vor. „Ich brauche nur einen Moment Stille, um einen klaren Kopf zu behalten.“
Während die Kohle allmählich zu glühen beginnt, beobachte ich Fred aufmerksam. Irgendetwas muss gerade mit ihm passiert sein – wie gebannt starrt er in die Glut. „Hörst du das auch?“, raunt er mir mit glasigem Blick zu.
„Ja“, bestätige ich, „ich nehme das Flüstern und Rascheln auch wahr.“ Erleichtert seufzt er auf: „Dann bin ich also doch nicht verrückt!“ Ein tiefes, befreiendes Ausatmen folgt. Wie ein Mantra murmelt er vor sich hin: „Ich bin nicht verrückt, ich bin nicht verrückt, ich bin nicht verrückt…“ während er tiefer in den hinteren Teil des herrschaftlichen Flurs läuft.
Die Kohle glüht mittlerweile weiß, und ich streue frische Kräuter auf, bevor ich ihm folge. Feiner weißer Rauch kräuselt sich langsam empor, während ich den hinteren Flurbereich betrete. Die schiere Masse an Ölgemälden überwältigt mich: Düstere Portraits mit streng und steif wirkenden Personen wechseln sich ab mit lebhaften Jagdszenen und zarten, pastellfarbenen Landschaften. Gemälde reiht sich an Gemälde, von der Decke bis knapp über dem Boden. Und von jedem einzelnen Bild wispert und flüstert es, als wollte mir jedes seine Geschichte erzählen.
Mein Blick wandert von den Bildern zu ihrem Besitzer, der sich plötzlich wie verwandelt hat – zittrig und gebrechlich macht er sich als alter Tattergreis an den Bildern zu schaffen. Einige rückt er gerade, andere dreht er um 180 Grad. Aus unerfindlichen Gründen hängen sie kopfüber.
„Das hast du mir verschwiegen“, murmle ich nachdenklich. Er wendet sich mir zu, und ich weiche unwillkürlich zurück: Fred ist nur noch ein Schatten seiner selbst. In den wenigen Minuten seit unserer Begegnung vor dem Haus scheint er um Jahre gealtert zu sein – seine Augen sind matt und müde, das Gesicht fahl und gelblich, die einst aufrechte und gerade Haltung erschlafft und eingefallen. Als hätte etwas seine Lebensenergie aufgesogen. Wie ein altersschwacher Greis brabbelt er unablässig: „Ich bin nicht verrückt, ich bin nicht verrückt, ich bin nicht verrückt…“
Sprechende Bilder sind eine Sache, aber eine derart rapide Alterung beunruhigt selbst mich. Hier wirkt eindeutig eine ganz und gar ungewöhnliche Kraft.
„Stopp!“, rufe ich erneut, und meine diesmal nicht nur das Geflüster, sondern auch diese eigenartigen Vorgänge. Augenblicklich kehrt Totenstille ein. Auch der alte Mann verstummt. Besorgt wende ich mich ihm zu: „Geht es dir gut?“ – „Ja, passt schon…“, erwidert er mit kraftloser, zittriger Stimme.
Ein Plan muss her. Nachdem ich frische Kräuter aufgelegt habe, trete ich entschlossen vor eines der Portraits und spreche den streng dreinblickenden Rechtsanwalt direkt an: „Hallo Sie, Sir, können Sie mir erklären, was hier vor sich geht?“
Es vergeht ein Moment. Hinter mir höre ich, wie Fred sich erschöpft in einen Sessel sinken lässt. Dass ich ein Gemälde anspreche, scheint ihm nicht ganz geheuer. „Ich trage keine Verantwortung für dieses Chaos“, vernehme ich plötzlich klar und deutlich vom Bild. „Wenden Sie sich an die Dame in Rot!“
Der Hausherr hat die Worte auch gehört, springt aus seinem Sessel auf und eilt ins Wohnzimmer. „Sie hängt im Wohnzimmer!“, ruft er mir zu. Anscheinend hat er vergessen, dass Bilder nicht sprechen können.
Die Dame in Rot: Ein lebensgroßes Portrait mit eigener Geschichte
Mit meinem frisch bestückten Räuchergefäß folge ich ihm eilig. Wir betreten einen elegant eingerichteten Raum mit klassischen Ledersesseln, bodenlangen, golddurchwirkten Brokatvorhängen und hellem Holzparkett in edlem Fischgrätmuster, das von erlesenen Orientteppichen bedeckt wird. Die Wände sind rundum mit Holz getäfelt, und auch hier schmücken zahllose alte Ölgemälde in allen Größen und Farben mit unterschiedlichsten Motiven die Wände.
Zwischen spielenden Kindern, dramatischen Seeschlachten und lieblichen Landschaften erblicke ich sie: Die Dame in Rot, lebensgroß und majestätisch. Ihr Platz zwischen zwei Fenstern gehört alleine ihr. Eingerahmt von einem schweren, vergoldeten Holzrahmen ist sie ein wahrer Blickfang. Sie mag Mitte zwanzig sein, ist bezaubernd hübsch und strahlt in ihrem prachtvollen roten Seidenkleid eine vornehme und doch überaus freundliche Anmut aus. Ihr blondes Haar ist kunstvoll zu einer komplizierten Flechtfrisur arrangiert, geschmückt mit Blumen und Perlen, ihre zarten Hände stecken in feinsten Spitzenhandschuhen. Zweifellos ist sie die Königin hier im Raum!
Ich stelle mich vor das Gemälde, während der kurze Energieschub den Hausherren bereits wieder verlässt. Kraftlos sinkt er in einen der Sessel. Er scheint immer weniger zu werden… Ängstlich und erschöpft bringt er hervor: „Du willst doch nicht etwa mit ihr sprechen?“ – „Selbstverständlich“, entgegne ich selbstbewusst, wende mich wieder dem Bild zu und spreche die schöne junge Frau an: „Hallo holde Dame, edle Jungfer“, wage ich eine respektvolle Anrede, „würdet Ihr mir bitte erklären, was hier los ist? Und verzeihen Sie bitte meine unbeholfene Anrede – ich bin mir über die korrekte Form nicht sicher.“
Kaum habe ich geendet, bricht der Tumult wieder los. Als hätten sich die anderen Bilder nur mühsam zurückgehalten und nur darauf gewartet, endlich wieder darauf los zu plappern. Ich bleibe bestimmt: „Stopp, ich spreche ausschließlich mit der Dame in Rot!“ Wie auf ein geheimes Zeichen verstummen alle anderen augenblicklich.
Rebecca die Dritte enthüllt ihr Geheimnis: Die Suche nach der verlorenen Liebe
Während ich mein Räuchergefäß schwenke, warte ich geduldig, ob die Dame in Rot sich zu einer Antwort entschließt. Plötzlich erhebt sich, ganz zart und vornehm, eine weibliche Stimme: „Ich bin Rebecca die Dritte, und ja, ich bin von Kummer erfüllt. Meine Zeit in diesem Hause währt noch nicht lange.“
„Das stimmt“, ertönt Freds Stimme hinter mir – offenbar kann auch er die Worte der Dame in Rot hören. „Ich habe ihr Gemälde erst vor etwa einem Jahr gekauft.“ Eine interessante Wendung, denke ich bei mir. Nicht die Mutter des Gemäldebesitzers möchte sich Gehör verschaffen, sondern diese reizende junge Lady.
Ich wende mich wieder dem Portrait der bezaubernden jungen Frau zu und suche ihren Blick: „Könnt Ihr mir erklären, weshalb die Bilder in Unordnung geraten und teilweise kopfüber hängen? Und warum Fred derart schwach und energielos wirkt, sobald er das Haus betritt?“
Mit klarer, kultivierter Stimme antwortet sie traurig und entschuldigend: „Ich suche Philippe, meinen Gemahl. Er ist nicht hier!“ Fragend drehe ich mich zum Hausherrn um, der bestätigend nickt. „Ja, es stimmt. Man hat mir damals nur ihr Portrait zum Kauf angeboten. Das Bildnis ihres Gemahls befindet sich noch beim Verkäufer. Aber ich rufe ihn gleich an!“
Fred begibt sich ins Nebenzimmer, wo ich ihn gedämpft telefonieren höre. Ich wende mich wieder der Dame in Rot zu und frage unumwunden: „Weshalb entzieht Ihr Fred seine Lebenskraft, sobald er das Haus betritt?“ Fast melodisch erklärt sie: „Ich benötige die Kraft des älteren Herrn, um nach Philippe zu suchen. Ich muss dafür mit allen Bildern kommunizieren, doch sie erwiesen sich bisher als wenig hilfreich – sie äußern nur wirres Gerede, so sehr ich mich auch bemühe.“ Tiefes Mitgefühl für die schöne Dame erfüllt mich, doch dem Besitzer seine Kraft zu entziehen, ist auch keine Lösung. Wir müssen einen anderen Weg finden.
Die überraschende Lösung: Philippes Rückkehr und das Ende des Energieraubs
„Welche Möglichkeit gäbe es, damit der alte Herr seine Kraft behalten kann und die Bilder gerade an der Wand hängen bleiben können?“ – „Ich sehne mich so sehr nach Philippe!“, ruft sie flehentlich. Puh… eine schwierige Situation, denke ich bei mir. Doch da erklingt es freudig hinter mir: „Ich bekomme Philippe!“ Fred ist aus dem Nebenzimmer zurückgeeilt und strahlt vor Freude. „Ich kann ihn am Freitag abholen!“
Kaum ist diese fabelhafte Neuigkeit ausgesprochen, wandelt sich die Atmosphäre des Raumes. Das Flüstern und Wispern verstummen. Der Raum scheint aufzuatmen, sich zu weiten und strahlt nun eine behagliche, einladende Stimmung aus. Alle Schwermut und Bedrückung sind wie fortgewischt. Auch Fred erscheint wie verwandelt: Er ist wieder so fit, strahlend und voller Energie wie bei unserer ersten Begegnung vor drei Stunden im Garten. Seine Haltung ist aufrecht, sein Gang beschwingt, seine Augen lebendig und klar.
Doch eine Frage bleibt: Weshalb steht Philippes Portrait jetzt plötzlich doch zum Verkauf, noch dazu weit unter seinem Wert? Dieses Geheimnis wird heute nicht mehr gelüftet. Mit leichtem Herzen verabschiede ich mich von Fred und seiner außergewöhnlichen Gemäldesammlung.
Epilog: Wenn Ölgemälde Liebe und Sehnsucht verbindet
Einige Tage später erreicht mich Freds Anruf. Es ist Freitag – der Tag, an dem er Philippe abholen konnte. Glücklich berichtet er, dass er das Gemälde sofort direkt neben Rebecca der Dritten, der Dame in Rot, platziert hat. „Seit die beiden vereint sind, herrscht eine ganz wunderbare Atmosphäre im Wohnzimmer. Offen, herzlich und voller Wärme“, sprudelt es aus dem passionierten Kunstsammler hervor. Auch das Rätsel um den günstigen Verkauf hat sich gelüftet. „Stell dir vor, Helga“, schmunzelt Fred, „der vorherige Besitzer der beiden Portraits konnte seit dem Verkauf der Dame in Rot keine Nacht mehr ruhig schlafen! Er hat seither permanent Stimmen gehört und sich krank und energielos gefühlt.“
Interessant, denke ich mir… wie schön, dass wir nun die Ursache kennen und die beiden Liebenden wieder vereint sind. Man sollte Liebende eben nicht trennen – offenbar nicht einmal dann, wenn es sich nur um Ölgemälde handelt…
Exklusive Podcast-News direkt in Dein Postfach
Möchtest Du keine neue Folge von „Anders normal“ mehr verpassen? Dann melde dich jetzt zum Newsletter an! Du erhältst sofort eine kurze Mail, sobald die nächste inspirierende Episode online geht.