Der Pechvogel

Eine wahre Begebenheit.
Erlebt von Helga Thein, aufgeschrieben und gelesen von Andrea Groh

Zum Hören und Eintauchen

  Zum Lesen und Mitfühlen

Der Pechvogel

Die mysteriösen technischen Pannen im Büroalltag

Das schrille Kreischen der Nadeldrucker durchschneidet die morgendliche Stille im Büro. Christine zuckt zusammen und wirft einen verzweifelten Blick in meine Richtung. Während ihre Kolleginnen zügig ihre fertigen Dokumente ausdrucken, hat sich bei ihr wieder einmal einer ihrer routinemäßigen Druckaufträge nicht in Papier, sondern in eine mysteriöse E-Mail verwandelt, die nun im Postfach einer Kollegin landet. Es ist nur eines von vielen unerklärlichen technischen Missgeschicken, die meiner Kollegin Tag für Tag zusetzen.

„Ich verstehe das einfach nicht“, murmelt sie und sinkt in ihren Bürostuhl. „Ich fühle mich manchmal, als hätte sich die ganze Welt gegen mich verschworen.“ In ihrer Stimme schwingt nicht nur Frustration mit, sondern auch tiefe Resignation. An Christine haften die Missgeschicke wie alte Moosflechten am Gestein eines Alpengipfels.

Vom Pechvogel zum Außenseiter - Eine Serie unerklärlicher Vorfälle

In unserer Büroabteilung hat sie längst den Stempel als Pechvogel weg. Die Liste ihrer Missgeschicke scheint endlos: Beim stabilen Bleistiftspitzer im Büro bricht ihr regelmäßig der Hebel ab. Die Gurte der Rollläden reißen, sodass sie sich auf eigene Kosten in ihrer Mietwohnung elektrische Fensterheber einbauen lässt – doch auch die funktionieren nicht. Auf der Toilette im Büro geht das Licht nur über einen Bewegungsmelder an, eine zu Beginn der 90er Jahre noch recht moderne Erfindung. Doch immer, wenn Christine den Raum betritt, funktioniert er nicht. Es bleibt dunkel.

Den Weg zur Arbeit legt sie mittlerweile zu Fuß zurück, weil sie für alle Busfahrer wie ein rotes Tuch ist. Kaum steht Christine an der Tür und will aussteigen, geht die Tür entweder nicht auf, oder eine offene Tür schließt sich nach ihr nicht mehr. Ein Fenster kommt ihr beim Öffnen fast entgegengeflogen und hängt nur noch an einer Ecke, weil eine der Verriegelungen nicht richtig sitzt. Eine ganz besondere Beziehung hat sie auch zu Klingeln und Türöffnern: Nachdem es geläutet hat, drückt sie auf den Türöffner, die Tür geht auf. Doch der Türöffner summt munter weiter, bis er nach einiger Zeit durchgebrannt ist. Kurz: Es ist wie verhext. Egal ob Türen, Fenster, Kaffeeautomaten, das neue Faxgerät, Telefonanlagen, Drucker, Kopierer… alles scheint sich gegen die junge Büroangestellte verschworen zu haben.

Verborgene Gaben und versteckte Wahrheiten im Büroalltag

Während die anderen Kollegen über sie tuscheln und spotten, beobachte ich Christine genauer. Ich erkenne in ihr etwas von mir selbst wieder – jemanden, der nach außen anders erscheint, als er im Inneren tatsächlich ist. Hinter ihrer vermeintlichen Tollpatschigkeit verbirgt sich eine warmherzige, hilfsbereite Kollegin, die trotz aller Widrigkeiten für jeden ein offenes Ohr hat. Doch ich sehe noch mehr: In manchen Momenten scheint es mir, als würden dunkle Schatten um sie herumtanzen – eine Wahrnehmung, die ich sorgsam für mich behalte, denn zu gut kenne ich die Konsequenzen, wenn ich meine besonderen Fähigkeiten den „Falschen“ offenbare.

Das Sommerfest - Eine unerwartete Chance zur Verwandlung

Das anstehende Sommerfest der Firma, zu dem jede Abteilung einen Beitrag gestaltet, wird zu einer besonderen Herausforderung. „Bitte“, fleht Christine unsere Abteilung an, „macht keinen Sketch über meine technischen Probleme!“ Die Scham in ihrer Stimme ist nicht zu überhören – ihr sind ihre Missgeschicke überaus peinlich. Ich fühle mit ihr, wo doch auch ich versuche, einen Teil meiner Wahrheit vor anderen zu verbergen.

Statt eines Sketches entwickeln wir eine andere Idee: einen Tanz zu „Alfreds Traumwelt“ aus dem Musical „Tanz der Vampire“. „Du wirst Alfred spielen“, schlage ich Christine vor. „Die Hauptrolle.“ Ihre Augen weiten sich ungläubig, doch nach einer Weile nickt sie zustimmend.

Die Parallelen sind perfekt: Wie Alfred im Musical zwischen Traum und Realität schwankt, so scheint auch Christine in zwei Welten zu leben – einer, in der nichts funktioniert, und einer, in der ihr wahres Potential liegt. Ganz nebenbei könnten wir dabei mit viel Bühnennebel, Licht und Rauch arbeiten und so – völlig unauffällig – Christine räuchern und von ihren merkwürdigen Schatten befreien.

Heute würde ich Christine natürlich fragen, ob ich sie unterstützen kann, und nicht einfach ungefragt ein Räucherexperiment mit ihr wagen. Doch zur damaligen Zeit fiel mir keine andere Lösung ein. Ich war Mitte 20, relativ neu im Betrieb, und die Themen Räuchern, Hellsichtigkeit oder Energiearbeit waren exotisch – etwas, worüber man einfach nicht sprach. Ein großes Geheimnis, das im Verborgenen gehalten werden musste.

Zwischen zwei Welten - Von der Kunst des Versteckens

Als Kind habe ich gelernt, meine besonderen Fähigkeiten zu verbergen – die Geister, die ich sehen kann, die Energien, die ich spüre. Meine Mutter hat mich eindringlich gewarnt: „Erzähl niemandem davon, sonst halten sie dich für verrückt.“ Zu meinem eigenen Schutz hatte sie mich vor Fremden immer als verrückt und blöd dargestellt. Wenn ich ehrlich bin, kann ich es ihr nicht verdenken, denn es muss wirklich seltsam ausgesehen haben, wenn ich mal wieder mit offenen Augen dastand und dem Geist einer toten Katze nachblickte, der gerade im größten Autoverkehr über die Straße lief. Die Katze sah nur ich, mein verdutztes Gesicht mit dem ungläubig offenstehenden Mund aber sahen alle.

Heavy Metal im Dirndl - Ein Leben in Parallelwelten

In meiner Jugend versteckte ich nicht nur meine Hellsichtigkeit, sondern auch meine große Leidenschaft vor der Welt: Heavy Metal. Beim Trachtenumzug spielte ich schön brav im schmucken Dirndl Akkordeon, Flöte und Trompete, doch viel lieber hörte ich im Keller auf einem tragbaren Plattenspieler meine geliebten Heavy Metal-Schallplatten. Ich führte ein Doppelleben. Nach außen hin wahrte ich den Schein, hinter den Mauern aber gab es eine andere Realität, ein anderes Ich. Für die Außenwelt war ich „normal“, doch mein wahres Leben fand im Verborgenen statt.

Die geheime Vorbereitung - Experimente mit Rauch und Nebel

Zurück zu Christines Geschichte und dem Sommerfest. Zusätzlich zu den Proben bereite ich insgeheim noch etwas anderes vor: Ich experimentiere für unseren Auftritt tagelang im Wohnzimmer mit der Nebelmaschine meines Bruders und versuche eine Lösung zu finden, wie ich bei unserem Auftritt möglichst unbemerkt mein Räuchern einbauen kann. Der Rauch soll großzügig Christines Energie räuchern und dabei weder die Bühne noch unsere Kostüme in Brand setzen – eine knifflige Aufgabe. Dass ich mein Räucherkesselchen nicht verwenden kann, ist mir schnell klar. Viel zu offensichtlich!

Mein Mann erklärt mich schon fast für verrückt, während ich alles Mögliche ausprobiere, damit ich mithilfe der Nebelmaschine den Rauch und Duft der Kräuter und Harze verströmen kann. Ein wenig komme ich mir vor wie Daniel Düsentrieb beim Experimentieren in seinem Labor. Und tatsächlich finde ich nach einiger Zeit eine Lösung: Wenn ich die Kohle auf eine Untertasse gebe und ganz dicht vor die Nebelmaschine stelle, verteilt sich der Rauch wunderbar im Raum. Die Untertasse ist zwar nicht komplett unsichtbar, aber da die Nebelmaschine den Zuschauern verborgen ist, trotzdem so unauffällig, dass niemand etwas mitbekommen sollte.

Alles muss im Verborgenen geschehen – eine weitere Übung in der Kunst der Tarnung, die ich seit meiner Kindheit perfektioniert habe.

Der große Auftritt - Wenn Magie auf der Bühne geschieht

Am Tag unseres Auftrittes bereite ich alles behutsam vor und achte peinlich genau darauf, dass mich niemand beobachtet, wie ich die Sachen zum Räuchern vorbereite. „Bühne frei für Tanz der Vampire“, ertönt schließlich unser Stichwort. Christine als Alfred steht in der Mitte der Bühne und glänzt in der Rolle ihres Lebens! Zerrissen zwischen Verzweiflung und Hoffnung spielt sie sich und ihr Leben selbst. Wir anderen wirbeln als Vampire mit unseren Umhängen um sie herum und hüllen sie mit jeder Bewegung in eine Wolke aus Bühnennebel und Räucherduft. In diesem Moment verschmelzen die beiden Welten – es wird ein Tanz zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt, der offensichtlichen und der, die es zu verbergen gilt.

Unser Auftritt ist ein voller Erfolg, und das Publikum springt begeistert von den Stühlen. Donnernder Applaus brandet über Christine als Alfred und uns Vampire. Christine steht in unserer Mitte, sie strahlt, wirkt gelöst und unglaublich stark. Als würde sie nach diesem Tanz im Nebel luftig leicht auf Wolke 7 schweben. Zum ersten Mal seit langem scheint sie ohne ihre Schatten zu sein. Ich freue mich unendlich für sie, drücke ihre Hand und bin überglücklich, dass mein kleiner Trick funktioniert hat.

Der Moment der Entdeckung - Ein jahrhundertealter Schrecken

Noch ganz aufgekratzt gehe ich von der Bühne zu der Nebelmaschine, um meine Räuchersachen abzubauen. Doch all meine Euphorie ist mit einem Schlag wie weggewischt, als ich „ihn“ sehe. Verdammt! Der Haustechniker steht vor mir. Ein stiller Typ, deutlich älter als ich, der mich mit durchdringendem Blick fixiert. „Ich weiß, was du getan hast“, sagt er leise.

Von Hexenverfolgung bis Gegenwart - Das Erbe der Angst

In diesem Moment durchfährt mich ein uralter Schrecken. Es ist die Angst, die tief in meinen Knochen sitzt, weitergegeben über viele Generationen von Menschen, die für ihr Anderssein verfolgt wurden. Für einen Augenblick sehe ich nicht mehr den Bürotechniker vor mir, sondern all die prüfenden Blicke der Geschichte: die Nachbarn, die alles Verbotene und Unerwünschte bei der Obrigkeit anzeigten, die Inquisitoren, die nach Hexen suchten.

Meine Kehle schnürt sich zu. Jahrhundertelang bedeutete entdeckt zu werden den sicheren Tod. In mir schwingt die Angst all derer, die ihre Gaben verleugnen, ihre Wahrheit verstecken und ihr Wissen nur im Verborgenen weitergeben mussten. Die Erinnerung all derer, die denunziert, verfolgt und zum Schweigen gebracht wurden. Die Warnungen meiner Mutter hallen in meinem Kopf wider: „Sag niemandem, was du siehst! Sie werden dich wegsperren!“

Mein Herz rast, als ich in die Augen des Technikers schaue. Ich fühle mich ertappt, enttarnt, entlarvt. Er hat mich durchschaut und mir mein wohlgehütetes Geheimnis entrissen.

Die unerwartete Wendung - Vom Schrecken zur Akzeptanz

Doch dann geschieht etwas Unerwartetes. Zu meiner großen Überraschung lächelt er und nimmt mich in den Arm. „Das hast du gut gemacht!“ Eine überwältigende Erleichterung, ein Wechselbad der Gefühle strömt durch meinen Körper. Ich bin komplett verwirrt und weiß nicht, ob ich vor Freude lachen oder weinen soll. Doch gehalten in seinem Arm durchströmt mich schließlich nur noch eine unendlich große Dankbarkeit. Er hat mich gesehen und versteht mich.

Ein neuer Morgen - Wenn Schatten weichen und Technik funktioniert

Am Montag darauf sitzen wir wieder alle im Büro und schwatzen über unseren Auftritt. Christine ist wie verwandelt: fröhlich und ausgelassen. Ihre Traurigkeit ist wie weggeblasen. Als es an der Tür klingelt, springt sie auf und läuft zum Türöffner. „Wartet!“, raunt sie uns mit schelmischem Grinsen zu. „Ich möchte euch etwas zeigen!“ Sie betätigt die Taste, und wir halten die Luft an. Es surrt kurz, die Tür des Gebäudes öffnet sich, und der Summer hüllt sich wieder in Schweigen. Als wäre Christines schattenhaftes Pech nie da gewesen! Christine wirbelt zu uns herum und jubelt: „Seht ihr das? Mein Pech ist weg! Heute mache ich für alle Latte macchiato!“ Und schon ist sie in unserer kleinen Küche verschwunden, wo die Kaffeemaschine tadellos, zufrieden und munter vor sich hin surrt.

Stille Verbündete - Die heilende Kraft geteilten Wissens

Die Bürotür geht auf, und unser Besucher tritt ein. Ich kann es kaum glauben: Es ist der Techniker, der mich beim Sommerfest bei der Nebelmaschine ertappt hat. Breit grinsend und hochzufrieden steht er in der Tür: „Ich wollte nur mal sehen, wie es euch so geht…“ Unsere Blicke treffen sich für einen kurzen, intensiven Moment, und wir erkennen uns gegenseitig. In seinen Augen liegt dasselbe Wissen, das auch ich in mir trage – das Wissen um die verborgenen Kräfte, die uns verbinden, das Wissen um die Energien, die in der Welt wirken, auch wenn sie für viele Augen verborgen bleiben. Wir wissen Bescheid…

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