Eine posthume Coaching-Session

Eine wahre Begebenheit.
Erlebt, aufgeschrieben und gelesen von Andrea Groh

Es ist mitten in der Nacht, als mein Vater mich völlig unerwartet besucht, um sich für gut eine halbe Stunde etwas unendlich Wichtiges von der Seele zu reden.

Warum das so besonders ist? Weil mein Vater vor über 30 Jahren starb.
Es ist erst das zweite Mal, dass wir seither Kontakt haben.
Beim ersten Mal war er nur eine glasklare Vision in meinem Kopf, bei diesem nächtlichen Besuch nutzt er auch den Körper meines Freundes, seine Augen und seine Stimme… Doch eins nach dem anderen.

Bevor ich Dir mehr von diesem nächtlichen und außergewöhnlichen Kontakt erzähle, solltest Du ein paar Details über seinen Tod wissen: Mein Vater starb mit 52 Jahren, kurz vor meinem 16. Geburtstag. Er trug einen hochaggressiven Magenkrebs in sich, der in der Uniklinik operiert wurde. Wenige Tage nachdem er wieder zuhause war, keuchte er morgens auffallend schwer beim Treppensteigen, so dass meine Mum mit ihm sofort ins örtliche Krankenhaus fuhr. Gegen Mittag kam sie zurück. Ohne ihn. Er hatte eine Lungenembolie und verließ seinen Körper für immer, während der Rettungshubschrauber von der Uniklinik schon auf dem Weg war.

Sechs Wochen waren vergangen zwischen der Krebsdiagnose und seinem Tod. Vier Stunden zwischen seinen schweren Atemzügen am Morgen zuhause und seinem letzten Atemzug im Krankenhaus. Der psychosomatische Grund, warum sich in seinem Körper letztlich so etwas wie Krebs manifestieren konnte, waren zu viel heruntergeschluckter Groll, zu viel Wut, zu viel Ohnmacht. Er sah in seinem Beruf viel Unrecht und zahlreiche Regelverstöße und verzweifelte daran, nichts wirklich ändern zu können.

Plötzlich kommt mir mein Vater in den Sinn. Ich nehme seine Präsenz wahr, nehme wahr, dass er gekommen ist, um mit mir zu sprechen. Irgendetwas ist dringend und liegt ihm sehr am Herzen. Irgendetwas möchte er klären. Ich lausche weiter und warte… werde zunehmend wacher… ich nehme Schmerz wahr. Viel Schmerz. Und ein irrsinnig großes Bedauern. Selbstvorwürfe. Leid. Trauer.
Gleichzeitig nehme ich wahr, dass es jetzt an der Zeit ist, all diese Schmerzen loszulassen, sie gehen zu lassen. Genau hier. Genau heute. Doch warum? Warum heute? Warum denke ich nach so vielen Jahren ausgerechnet heute so intensiv an ihn? Ich will es wirklich wissen! Da schießt mir prompt eine Erkenntnis durch den Kopf: „Ich bereite mich auf meine nächste Inkarnation vor,“ sagt mein Vater zu mir. Ich bin völlig baff. Das letzte Mal, dass ich ihn „in meinem Kopf getroffen habe“, ist mehr als 10 Jahre her… und so klar habe ich ihn noch nie wahrgenommen!

Eine zweite Erkenntnis durchflutet mich mit großer Klarheit: Er möchte unbelastet in sein neues Leben gehen! All den Schmerz von seiner Seele abstreifen und heilen.

Plötzlich sehe ich ihn vor mir in seiner ganzen Gestalt, lächelnd und freundlich. Durchsichtig ist er, aber dennoch deutlich. Nur in seinem Bauch schwebt ein unförmiger, dichter, schwarzer großer Klumpen. Wie ein Lavastein. Löchrig, porös, zerklüftet. Er nickt aufmunternd und bittend, als er merkt, dass ich den Klumpen wahrnehme.

Vorsichtig nehme ich mit meinen beiden Händen den Klumpen aus seinem Bauch. In dem Stein stecken einige längliche Teile, wie Stricknadeln in einem Wollknäuel. Behutsam ziehe ich eine nach der anderen heraus. Und als ich die letzte herausgezogen habe, klappt das ganze Gebilde auf. Sauber und in zwei Hälften geteilt offenbart es das, was in ihm verborgen war: ein kleiner, kompakter und etwa faustgroßer glatter Klumpen. Wie ein etwas zu groß geratener Avocadokern. Und wie ein Avokadokern hat auch er eine dünne Schicht. Schwarz und matt. Ich löse sie langsam ab. Darunter kommt eine fleischig-rote Masse mit einer tiefen, offenen Wunde zum Vorschein, die sich über die ganze Länge zieht. Ich verstehe. Um diese Verletzung also geht es hinter der Schale… „Was es wohl braucht, damit diese Wunde heilen kann?“ denke ich bei mir… Wie immer, wenn ich mit meinem kleinen menschlichen ICH keine Lösung habe, erlaube ich mir, dass eine Antwort zu mir kommt.
Ich sehe zu, wie kurz darauf ein paar Kräuterzweige direkt in die offene Wunde gelegt werden. Heilkräuter mit kleinen Blättchen, ein bisschen wie eine Mischung aus Thymian und Majoran.

Und während die Kräuterheilung stattfindet, unterhalten wir uns in meinem Kopf. Ich höre meinem Vater zu, was ihm auf der Seele brennt, umarme seinen Schmerz, öffne mein Herz für seine Trauer, die ja auch die meine ist:
Er wäre gerne länger auf dieser Erde und bei uns geblieben.
Es tat ihm so leid, dass er so früh gehen musste.
Er wollte nicht gehen.
Er hätte mich und meinen Bruder gerne aufwachsen sehen.
Er wollte all diesen Schmerz nicht.
„Ich weiß“, sage ich. „Ich fühle es. Und doch musste es genau so geschehen.“

Dann verlagert sich die Unterhaltung plötzlich. Mein Freund ist mittlerweile wachgeworden und „erlaubt“ meinem Vater, durch ihn sprechen zu dürfen, seinen Körper nutzen zu dürfen. Dadurch, dass mein Vater jetzt einen physischen Körper nutzen und auch eine Stimme verwenden kann, wird das ganze Gespräch intensiver. Körperlicher. Tränenreicher. All der Schmerz bricht aus ihm heraus, bahnt sich seinen Weg nach draußen. Ergießt sich in einem heilsamen Strom aus Tränen, den der Körper meines Freundes für ihn weint.

Immer wieder sage ich ihm, dass es genau so passieren musste. Dass letztlich alles in Ordnung ist. Dass ich so unendlich viel durch seinen Tod gelernt habe… dass ich so früh in meinem Leben so viel Grundlegendes erfahren habe, was ich auf anderen Wegen vielleicht nie hätte lernen können! Wie sehr ich ihm dafür danke, dass er mir die wunderbare Möglichkeit gegeben hat, all diese Erfahrungen so früh in meinem Leben machen zu können.

Es ist alles gut. Es war perfekt so, wie es war. Auch wenn ich nach seinem Tod über 16 Jahre gebraucht habe, um das so fühlen zu können.

Langsam ebbt sein Schmerz ab. Langsam scheint sich die Trauer aus seinem System gewaschen zu haben. Er fühlt sich jetzt leichter und heller an. Zuversichtlicher. Der schwarze Klumpen in seinem Bauch ist verschwunden.

„Du warst so schwer zu erreichen. Dein Herz war so verschlossen…“ murmelt er. – „Ich weiß…“ erwidere ich. „Es tat alles zu weh…“

Wir umarmen uns lange, während er noch den Körper meines Freundes bewohnt und ich wünsche ihm von Herzen alles Gute für sein neues Leben. Ich bin mir sicher, er kann es jetzt freier antreten. Offener. Unbeschwerter. Frei von dem alten Schmerz. Ohne dass die Erfahrungen des letzten Lebens wie ein Schatten auf seinem neuen ICH zu liegen brauchen.

„Falls Du mich in meinem neuen Körper treffen solltest, Du wirst mich erkennen…“ meint er schmunzelnd zum Abschied – „Ja, das werde ich.“

Es ist alles gut. Es ist alles im Frieden. Eine alte Wunde ist vollständig geheilt. In mir…  und in meinem Vater. Tief in mir weiß ich, dass ich ihn nie mehr treffen werde – zumindest nicht in meinem Kopf.

Aber wer weiß… vielleicht begegne ich eines Tages einem Kind, in dem ich die Essenz meines Vaters erkenne. Mal sehen, ob wir dann ein Eis zusammen essen gehen.

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